Drachenläufer
förmlichen »shoma«, denn ihr Lächeln erstarb. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihre Augen richteten sich auf etwas hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um. Blickte in das Antlitz von General Taheri.
»Amir jan. Unser angehender Geschichtenerzähler. Was für ein Vergnügen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln.
»Salaam General Sahib«, sagte ich mit schweren Lippen.
Er schritt an mir vorbei auf seinen Stand zu. »Was für ein wundervoller Tag, nicht wahr?«, sagte er, den Daumen in die Brusttasche seiner Weste eingehakt, die andere Hand in Sorayas Richtung ausgestreckt. Sie reichte ihm die Seiten.
»Es heißt, es soll noch in dieser Woche Regen geben. Kaum zu glauben, oder?« Er ließ die zusammengerollten Seiten in den Abfalleimer fallen. Wandte sich mir zu und legte eine sanfte Hand auf meine Schulter. Wir gingen ein paar Schritte zusammen.
»Wissen Sie, Amir, ich mag Sie. Sie sind ein anständiger Junge, davon bin ich überzeugt, aber«, er seufzte und vollführte eine Bewegung mit der Hand, »selbst anständige Jungen benötigen hin und wieder eine kleine Gedächtnisstütze. Also ist es meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, dass Sie sich auf diesem Trödelmarkt unter Ihresgleichen befinden. Wissen Sie, jeder hier ist ein Geschichtenerzähler.« Er lächelte und entblößte dabei seine perfekten Zähne. »Richten Sie Ihrem Vater meine Hochachtung aus, Amir jan.« Er ließ die Hand sinken. Lächelte aufs Neue.
»Was ist los?«, fragte Baba und kassierte gleichzeitig.
»Nichts«, erwiderte ich. Ich setzte mich auf einen alten Fernseher. Dann erzählte ich es ihm trotzdem.
»Ach, Amir«, seufzte er.
Wie sich herausstellte, kam ich gar nicht dazu, allzu lange über das nachzugrübeln, was passiert war.
Denn ein paar Tage später bekam Baba eine Erkältung.
Es begann mit einem trockenen Husten und einem leichten Schnupfen. Den Schnupfen überwand er, aber der Husten blieb. Er hustete ständig in sein Taschentuch, stopfte es sich dann wieder in die Tasche. Ich redete auf ihn ein, sich untersuchen zu lassen, aber er winkte ab. Er hasste Ärzte und Krankenhäuser. Meines Wissens war Baba in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal zum Arzt gegangen, und zwar, als er sich in Indien mit Malaria angesteckt hatte. Zwei Wochen später dann erwischte ich ihn dabei, wie er blutigen Schleim in die Toilette hustete.
»Wie lange geht das schon so?«, fragte ich.
»Was gibt es zum Abendessen?«, erwiderte er. »Ich bringe dich zum Arzt.«
Obwohl Baba inzwischen einer der Manager der Tankstelle war, hatte der Besitzer ihm keine Krankenversicherung angeboten, und Baba hatte in seinem Leichtsinn nicht darauf bestanden. Also brachte ich ihn zum Bezirkskrankenhaus in San Jose. Ein junger Assistenzarzt kümmerte sich um uns. Er war käsebleich und hatte verschwollene Augen. »Er sieht jünger aus als du und kränker als ich«, brummte Baba. Der Arzt schickte uns nach unten zum Röntgen. Als die Schwester uns wieder hereinrief, war er dabei, ein Formular auszufüllen.
»Nehmen Sie das mit nach vorn«, sagte er, als er fertig war. »Was ist das?«, fragte ich. »Eine Uberweisung.« »Wohin?«
»Zum Lungenspezialisten.« »Ist es denn etwas Ernstes?«
Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. Schob seine Brille zurecht. Begann wieder zu kritzeln. »Er hat einen Fleck auf der rechten Lunge. Die sollen sich das mal ansehen.« »Einen Fleck?«, sagte ich, und das Zimmer wurde plötzlich zu klein, die Luft zu dick. »Krebs?«, fügte Baba gleichgültig hinzu.
»Möglich. Jedenfalls sollte es abgeklärt werden«, murmelte der Arzt.
»Können Sie uns nicht mehr sagen?«, fragte ich.
»Im Augenblick nicht. Lassen Sie erst mal eine CT machen, und gehen Sie zu einem Lungenspezialisten.« Er reichte mir die Uberweisung. »Ihr Vater raucht, sagten Sie?« »Ja.«
Er nickte. Blickte von mir zu Baba und wieder zurück. »Man wird Sie in den nächsten zwei Wochen anrufen.«
Ich hätte ihn gern gefragt, wie ich in den nächsten zwei Wochen mit einem solchen Verdacht leben sollte. Wie sollte ich da essen, arbeiten, studieren? Wie konnte er mich einfach so nach Hause schicken?
Ich nahm die Überweisung und gab sie bei der Aufnahme ab. In jener Nacht wartete ich, bis Baba eingeschlafen war, und faltete dann eine Decke auseinander. Ich benutzte sie als Gebetsteppich. Den Kopf auf den Boden geneigt, sagte ich halb vergessene surrahs aus dem Koran auf - Verse, die uns der Mullah in Kabul hatte auswendig lernen lassen - und bat
Weitere Kostenlose Bücher