Drachenläufer
hatte, und so war es auch jetzt wieder. »Du bist zweiundzwanzig Jahre alt, Amir! Ein erwachsener Mann! Du ...«, er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut, überlegte noch einmal. Über uns trommelte der Regen auf die Markise. »Was mit dir geschieht, fragst du? All die Jahre habe ich versucht, dir etwas beizubringen, damit du diese Frage niemals stellen musst.«
Er öffnete die Tür. Drehte sich wieder zu mir um. »Und noch etwas. Niemand wird hiervon erfahren, hörst du? Niemand. Ich will kein Mitleid.« Dann verschwand er ins düstere Treppenhaus. Den Rest des Tages verbrachte er kettenrauchend vor dem Fernseher. Ich wusste nicht, was oder wem er zu trotzen versuchte. Mir? Dr. Amani? Oder vielleicht dem Gott, an den er nie geglaubt hatte.
Für eine Weile vermochte selbst der Krebs Baba nicht vom Trödelmarkt fern zu halten. Samstags saß er am Steuer des Busses, wenn wir die Garagenverkäufe abklapperten, und ich dirigierte ihn, und sonntags boten wir die erworbenen Dinge zum Verkauf an. Messinglampen. Baseballhandschuhe. Skijacken mit kaputten Reißverschlüssen. Baba begrüßte Bekannte aus der alten Heimat, und ich feilschte mit Käufern um einen Dollar oder auch zwei. Als ob irgendetwas davon eine Rolle gespielt hätte. Als ob der Tag, an dem ich Waise werden würde, nicht mit jedem Geschäft, das ich tätigte, näher rückte.
Manchmal spazierten General Taheri und seine Frau vorbei. Der General, ganz Diplomat, begrüßte mich mit einem Lächeln und umschloss meine Hand wie immer mit beiden Händen. Aber da war eine neue Zurückhaltung in Khanum Taheris Benehmen. Eine Zurückhaltung, die nur von ihrem verlegenen schiefen Lächeln und den verstohlenen entschuldigenden Blicken gebrochen wurde, die sie mir zuwarf, wenn die Aufmerksamkeit des Generals einmal abgelenkt war.
Ich erinnere mich an diese Zeit als eine Phase, in der viele Dinge zum ersten Mal geschahen: Ich hörte Baba zum ersten Mal im Badezimmer stöhnen. Ich fand zum ersten Mal Blut auf seinem Kissen. Und zum ersten Mal in den drei Jahren, seit denen er an der Tankstelle arbeitete, meldete er sich krank.
Als in jenem Jahr Halloween vor der Tür stand, wurde Baba an den Samstagen um die Nachmittagszeit immer so müde, dass er hinter dem Steuer wartete, während ich ausstieg und um den Trödel feilschte. Als Thanksgiving kam, war er schon kurz vor Mittag erschöpft. Und als Schlitten in den Vorgärten auftauchten und die Douglastannen Schnee aus der Spraydose trugen, blieb Baba zu Hause, und ich fuhr den VW-Bus allein die Peninsula hinauf und hinunter.
Manchmal ließen afghanische Bekannte auf dem Trödelmarkt Bemerkungen über Babas Gewichtsverlust fallen. Anfangs waren sie schmeichelhaft. Einige erkundigten sich sogar, welche Diät er mache. Aber die Fragen und Komplimente hörten auf, als er weiter abnahm. Und weiter abnahm. Als seine Wangen einfielen. Seine Schläfen einsanken. Und seine Augen immer tiefer in ihren Höhlen saßen.
An einem kühlen Sonntag dann, kurz nach dem Neujahrstag, verkaufte Baba gerade einem stämmigen Filipino einen Lampenschirm, während ich im VW nach einer Decke kramte, die ich Baba über die Beine legen wollte.
»He, Mann, der Typ hier braucht Hilfe!«, rief der Filipino plötzlich erschrocken. Ich drehte mich um und sah Baba am Boden liegen. Seine Arme und Beine zuckten.
»Komak!«, rief ich. »Zu Hilfe!« Ich rannte auf Baba zu. Schaum trat ihm aus dem Mund, lief in seinen Bart. In seinen nach oben verdrehten Augen sah man nur noch das Weiße.
Leute eilten auf uns zu. Ich hörte, wie jemand das Wort »Anfall« aussprach. Ein anderer schrie: »Ruf einen Krankenwagen!« Ich hörte dahineilende Schritte. Der Himmel verdunkelte sich, als sich eine Menschenmenge um uns versammelte.
Der Schaum wurde rot. Baba biss sich auf die Zunge. Ich kniete mich neben ihn, packte seine Arme und redete beruhigend auf ihn ein. Ich bin ja da, Baba, sagte ich zu ihm, ich bin ja da, alles wird gut, ich bin bei dir. Als hätte ich die Krämpfe mit meinen Worten aus ihm herauslocken können. Sie überreden können, meinen Baba in Ruhe zu lassen. Ich spürte etwas Feuchtes auf meinen Knien. Sah, dass sich Babas Blase entleert hatte. Schhh, Baba jan, ich bin ja da. Dein Sohn ist bei dir.
Der Arzt mit dem grauen Bart und dem kahlen Kopf zog mich aus dem Zimmer. »Ich möchte die CT-Aufnahmen Ihres Vaters mit Ihnen durchgehen«, sagte er. Er befestigte die Seiten auf einem erleuchteten Schaukasten im Flur und
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