Drachenland: Roman (German Edition)
fliegen, und die Flamme in mir ist erloschen.«
»Du hast deine Flügel«, sagte Amsel, »und die Wärme hier kommt nicht nur von deinem Blut.«
»Ich liege in Ketten«, entgegnete der Drache.
Amsel lächelte. »Dann werde ich einen Weg finden, dich von den Ketten zu befreien.«
»Das versuche ich doch schon seit Ewigkeiten.«
»Wenn ich dich befreie«, sagte Amsel, »hilfst du mir dann?«
Der Drache schwieg, aber in seinem Gesicht sah Amsel etwas, was kurz zuvor noch nicht da gewesen war. In den dunkelblauen Augen stand Hoffnung, jahrhundertealt, wartend.
Amsel ging rasch zu der angeketteten Vorderpranke des Drachen. Die Fessel war riesig – Amsel hätte darin stehen können. Nach einigem Suchen fand er ein Loch. Es war größer als seine Hand, und Amsel vermutete, dass es für den dazu passenden Schlüssel bestimmt war.
Er trat näher heran und steckte die Hand in das Loch. Er tastete es ab und entdeckte eine Reihe von Häkchen, aus denen der Verschlussmechanismus bestand. Er hatte bei seinen Studien und Experimenten wenig mit Schlössern zu tun gehabt, aber vor Jahren hatte ihm ein Händler aus dem Südland eine Truhe verkauft, in der sich ein Schlüsselloch befand. Er hatte damals untersucht, wie das Schloss funktionierte, und was er damals in Erfahrung gebracht hatte, musste er jetzt anwenden.
Er zerrte an dem ersten Häkchen und brachte es schließlich in die richtige Höhe – soweit er das beurteilen konnte. Dann bearbeitete er das nächste Häkchen auf die gleiche Weise. Die weiter von ihm entfernten Häkchen waren noch schwerer hochzuziehen. Er mühte sich lange ab, versuchte, seine Hand so weit wie möglich zu strecken, und zerrte, bis das letzte Häkchen nachgab – und er sich den Finger einklemmte. Er zog die Hand aus dem Schloss und schüttelte sie mit kläglichem Gesicht.
Der Drache sah ihm dabei fast belustigt zu, aber Amsel sagte leise: »Bewege deine Pranke.«
Die große Pranke ballte sich zusammen, die Fessel hielt noch einen Moment, dann schnappte sie rostig knarrend auf. Amsel wischte sich den Staub von den Händen und lächelte den Drachen voller Stolz an. »Und jetzt«, sagte er, »werden wir, denke ich, den Frostdrachen einen Besuch machen.«
»So!«, sagte Evirae gut gelaunt. »Wir lassen die verrostete alte Truhe wegschaffen, und ich stelle meine Frisierkommode dorthin.«
Mesor schüttelte missbilligend den Kopf. »Die Truhe ist ein seltenes antikes Stück aus der Zeit vor König Ambalon. Eure Frisierkommode ist zu groß für den Platz. Sie wird das Fenster verstellen, Prinzessin.«
Evirae warf ihm einen zornigen Blick zu. »Königin!«, sagte sie scharf. »Ich möchte Königin genannt werden.«
Mesor lächelte. »Wie Ihr wünscht, meine Königin. Die Krönung jedoch findet erst morgen statt.«
»Das ist eine reine Formsache«, entgegnete Evirae.
»Vielleicht, aber bevor die Krönung stattgefunden hat, besitzt Ihr nur begrenzte Amtsgewalt. Die Familie darf Euch nicht für überheblich halten.«
Evirae beachtete Mesors warnende Worte nicht. Sie sah sich unbeschwert in Falkenwinds privaten Gemächern um, öffnete Schränke und Türen, murmelte etwas von Neu-Herrichten und hielt ständig Ausschau nach weiteren Beweisen für Landesverrat.
Was für ein Leben sie vor sich hatte, dachte sie. Sie gedachte die Zügel der Regierung fest in die Hand zu nehmen. Sie würde dem Südland und Bundura erweiterte Handelsbeziehungen anbieten. Sie wollte mit Kiorte in seinem Windschiff in ferne Länder reisen. Die verblichenen Fahnen an den Straßen würden durch neue, farbenprächtige ersetzt werden, und die Straßen Simbalas sollten wahre Kunstwerke werden. Alle Kinder würden die huldreiche Königin Evirae lieben und Kiorte wie einen Helden verehren. Sogar Ephrion würde Evirae achten, und in weniger bedeutenden Staatsangelegenheiten würde sie ihn um Rat fragen.
Evirae ging zum einzigen Fenster des Gemachs und blickte hinunter auf die grünen Hofanlagen. Hier würde sie als Königin walten. Hier würde sie ein Kind zur Welt bringen, eine Tochter, die ihre Nachfolgerin auf dem Thron Simbalas werden würde.
»Ich wollte, Kiorte wäre hier«, seufzte sie und blickte Mesor an. »Aber zur Krönung wird er doch zurückkehren?«
Mesor nickte. »Wenn des Prinzen Manöver gegen die Eindringlinge erfolgreich sind, könnt Ihr ihn mit gutem Grund erwarten.«
Evirae fragte, plötzlich besorgt: »Verbirgst du etwas vor mir, Mesor? Etwas, was ich nicht weiß?«
»Gewiss nicht«, erwiderte der
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