Drachenland: Roman (German Edition)
Tagen wie heute wünschte Tamark manchmal, er wäre damals nicht zurückgekehrt nach Fandora, zu dem Beruf seines Vaters: Als er ein junger Mann war, hatte er die Welt sehen wollen und sich als Lehrling eines Kaufmanns verdingt. Die Karawane (sie bestand aus vier Pferden und ein paar mit Stoffen beladenen Wagen, aber für ihn war es eine Karawane gewesen, sogar eine sehr beeindruckende) war nach Bundura, einem der fernen Westlande, gereist. In den Wochen dort war Tamark ganz geblendet von den Wundern Dagemon-Kens, der Hauptstadt, ihren Wasserfontänen und riesigen Gebäuden. Aber erst die Frauen dort! Er verliebte sich heftig in die rehäugige Tochter eines Viehbarons, musste aber bald erfahren, dass seine Liebe nicht erwidert wurde; er diente ihr und ihren Freunden nur als bäurische Kuriosität zur Unterhaltung. Als Tamark das erkannte, war er nach Hause zurückgekehrt und hatte sich geschworen, seine Geburtsstadt nie wieder zu verlassen.
Er seufzte. Das lag viele Jahre zurück, und obwohl er dann und wann immer noch gebeten wurde, von den unglaublichen Dingen zu berichten, die ihm auf seinen Reisen begegnet waren, erweckten die Erinnerungen nur noch selten das gleiche erregende, abenteuerliche Gefühl in ihm wie einst. Er war jetzt ein Fischer in Fandora – nicht mehr und nicht weniger -, und das würde er bleiben, bis er starb. Es traf zu, dass er auch einer der Ältesten von Kap Bage war, aber obwohl er seinen Pflichten gewissenhaft nachkam, fand er es manchmal schwer, sie ernst zu nehmen. Zu entscheiden, welches Huhn in wessen Stall gehörte oder wem die Äpfel zustanden, die an der anderen Seite des Zauns herunterfielen, waren kaum Probleme, die eine Kenntnis ferner Gegenden und Städte erforderten. Tamark seufzte noch einmal. Er wünschte, er hätte die Gelegenheit, etwas Nützliches zu tun, für sich selbst wie auch für seine Stadt, wie sein Großvater es getan hatte, als er die Netze erfand.
Es war an der Zeit, den Fang einzuholen, darum verließ Tamark den Korb und nahm seinen Platz an einer der Winden ein. Etwa zwanzig andere Fischer taten es ihm gleich. Tamark beobachtete sie, wartete, bis alle an ihrem Posten standen, die abgenutzten hölzernen Kurbeln fest in der Hand. »Betet, dass es diesmal ein guter Fang ist!«, rief er, wurde aber nur mit ein paar mutlosen Blicken bedacht. Wenigstens war er nicht der einzige unzufriedene Fandoraner. »Also kurbelt!«, brüllte er, und im Gleichklang zogen sie die Kurbeln auf sich zu.
Ihre Anstrengungen hätten auf einen ziemlich starken Widerstand stoßen sollen, ein Gewicht, dessen sie langsam, aber sicher Herr wurden. Doch auch ein großer Fang bedeutete für zwanzig Fischer keine völlig erschöpfende Anstrengung. Darum war Tamark überrascht, als die Kurbel nach etwa einer halben Umdrehung stehen blieb. Er schaute zu seinen Kameraden – sie sahen genauso verdutzt aus wie er. Es musste ein Fang von noch nie da gewesener Schwere sein.
»Noch einmal … kurbelt!«, brüllte Tamark, und wieder zogen sie. Die Leinen gaben einen halben Meter nach, dann begannen die dicken Holzstangen, die gefurcht waren, um die Leinen zu führen, bedenklich zu ächzen. Was sie auch gefangen haben mochten: Es war schwer genug, die Winden herauszufordern. Wenn sie nicht aufpassten, konnte es die ganze Konstruktion ins Meer reißen.
Tamark sah sich die Leinen an. Sie zeigten nicht das vertraute Hin- und Herschlagen, das sonst einen ungewöhnlich großen Fang begleitete. Aber sie schwirrten fast vor Anspannung. Er hatte sie noch nie unter einer solchen Belastung gesehen, selbst nicht, wenn sich gelegentlich Wracks in den Netzen verfangen hatten. Er hoffte, dass die Leinen dem Gewicht standhalten würden. Kein Taucher konnte in die Strömungen dort unten geschickt werden, um sie zu entwirren, und einfach die Taue zu durchtrennen war unvorstellbar. Sie würden Monate brauchen, um die wertvollen Jitenetze zu ersetzen.
»Zieht!«, brüllte Tamark wieder. »Zieht mit aller Kraft! Dreht die Kurbeln und zieht!«
Sie stemmten sich mit dem Rücken hinein; an ihren Schultern und Seiten traten die Muskeln hervor. Tamark merkte, wie er ins Schwitzen geriet, während die klamme Luft sich kalt auf seine Haut legte. Der graue Himmel schien von oben herunterzukommen, und der Nebel stieg; Dunstschwaden krochen über die Klippen. Tamark lauschte dem gedämpften Tosen der Brecher tief unten, als könnte es einen Hinweis auf ihre unbekannte Fracht geben. Das Ächzen der Winden drang durch die
Weitere Kostenlose Bücher