Drachenland: Roman (German Edition)
ihnen öffnete sich ein schroffer, unregelmäßig geformter Spalt, schwarz wie ein Minenschacht. Falkenwind hob seine Fackel, und sie stiegen die feuchten Granitwände hinunter.
»Ich weiß nicht, wodurch das Kind aus Nordwelden umkam«, sagte er, »aber nach dem, was der Mann aus Nordwelden uns gesagt hat, hört es sich so an, als sei das Kind zermalmt und zerfetzt worden, fast als hätte man es vom Kliff heruntergeschleudert oder mit Keulen erschlagen. Es sieht nicht nach einem Raubtier aus.«
Sie kamen zu einer Weggabelung – rechts führte der Gang steil nach oben, links ebenso steil nach unten. Falkenwind schlug den linken Weg ein.
»Und doch«, sagte Ceria, »bist du der gleichen Meinung wie ich. Es können nicht die Fandoraner gewesen sein.«
Falkenwind lächelte. »Ephrion hat mir oft genug gesagt, dass ein Monarch immer, soweit möglich, alles erwägen und untersuchen sollte. Ich bat Kiorte, ein Windschiff hinauszuschicken, um die Küste Fandoras überprüfen zu lassen, aber er sagt, dass die Winde zurzeit zu heftig dazu sind. Wir müssen sehen, was wir selbst herausfinden können.« Seine Fackel beleuchtete ein großes, tiefes Wasserloch auf dem ebenen Weg, den sie jetzt entlanggingen. Falkenwind trug Ceria hinüber, leerte dann das Wasser aus seinen Stiefeln und trocknete sich die Füße an seinem Umhang. Sie gingen weiter. Der Pfad wand sich jetzt steil nach oben, und frische kalte Luft wehte zu ihnen herunter und ließ die Fackel flackern. Sie gelangten in eine ausgedehnte, tiefe Felsmulde – eine Augenhöhle des schädelförmigen Felsens. Tief unter ihnen erstreckte sich wie schwarzer Samt die Straße von Balomar. Watteartige Streifen aus Nebel und Dunst wanden sich um die Spitzen der Klippen, und dann und wann sahen sie in den Wellen Plankton phosphoreszierend aufleuchten wie explodierende Sterne. Die Brecher klangen wie fernes leises Trommeln. Der Himmel über ihnen war klar, und der tief im Westen stehende Halbmond beleuchtete die fernen nebelumschleierten Klippen von Fandora.
»Die Sicht ist heute Nacht nicht besonders gut«, sagte Falkenwind. »Aber vielleicht sehen wir trotzdem etwas.« Er zog ein Fernrohr aus seinem Gürtel und hielt es ans Auge.
»Was siehst du?«, fragte Ceria, nachdem sie das Gefühl hatte, er habe sie lange genug warten lassen.
»Sehr wenig. Der Mond ist hell, aber es herrscht dichter Nebel. Ich sehe kein Zeichen von Leben.«
»Aber der Mann aus Nordwelden bestand darauf, dass ein Schiff aus Fandora gesichtet worden sei«, sagte Ceria nachdenklich.
»Vielleicht ein Fischerboot, das abgetrieben worden ist«, sagte Falkenwind. »Vieles könnte geklärt werden, wenn es mehr Kontakt zwischen den beiden Ländern gäbe. Die gefährlichen Gewässer der Straße haben das verhindert, aber trotzdem sollte es möglich sein. Es ist etwas, was ich in die Wege leiten möchte.«
Hinter ihnen war ein Geräusch – ein Schritt auf steinigem Boden. Falkenwind drehte sich um. Ceria sah die Bewegung. Er erwartet wirklich irgendetwas, dachte sie.
Einer der Wachmänner tauchte auf. Er keuchte, als sei er durch die Gänge gelaufen. »König Falkenwind«, sagte er, nach Luft schnappend. »Zwei Männer zu Pferd im Wald in der Nähe! Sie hielten kurz an, und ich hörte sie sprechen. Sie sprachen wie die Leute aus Nordwelden.«
Falkenwind reichte ihm die Fackel. »Bleibe bei Lady Ceria«, sagte er. »Ich werde sie zur Rede stellen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, lief er den Gang hinunter.
»Aber es ist schwarz wie die Minen in diesen Tunneln!«, sagte der Mann zu Ceria. »Wie wird er ohne Fackel hindurchfinden?«
»Er schafft es«, antwortete sie.
Falkenwind tauchte aus dem Felsspalt auf und erschreckte Lathan, der die Pferde hielt. »Die Männer aus Nordwelden – wir werden sie uns vornehmen!«, sagte Falkenwind. »Zeige mir den Weg, den sie eingeschlagen haben!«
»Aber … Herr!«, stammelte Lathan. »Sie reiten Hengste aus Nordwelden – wir haben keine Chance, sie einzuholen!«
»Wir werden sie einholen«, sagte Falkenwind. Sein Falke kreiste über ihm, und als er sein Pferd bestieg, flog der Vogel, auf den Wald zu. Lathan saß auf und folgte Falkenwind, aber das Pferd des Monarchen schien selbst wie ein Falke im Flug. Es schoss davon, in den Wald hinein und verschwand. Lathan klammerte sich an den Hals seines Pferdes, fühlte, wie Zweige in der Dunkelheit nach ihm schlugen, und fragte sich, wie Falkenwind es fertigbrachte, in tiefschwarzer Nacht so schnell und so sicher
Weitere Kostenlose Bücher