Drachenland: Roman (German Edition)
den Sinn: »Die Schönheit einer Frau ist die beste Zuflucht für die Wahrheit.«
In den alten Tunneln unter dem Wald saß ein großer, beleibter Wächter auf einem Stuhl vor einer verschlossenen Kammer. Prinzessin Evirae hatte ihm befohlen, den Spion aus Fandora zu bewachen, und das tat er. Aber es konnte niemandem schaden, dachte er, wenn er eine kurze Ruhepause einlegte. Die Zelle war fest verschlossen, und er würde nur eben die Augen schließen. Er hatte über eine Stunde friedlich geschlafen, als er plötzlich von einem Hustengeräusch geweckt wurde, laut und trocken, als würde jemand ersticken, und es kam aus der Zelle.
»Hilfe, Wächter!«
Der Wächter erhob sich schwerfällig und legte das Ohr an die Tür. Der Hustenanfall des Gefangenen war abgeklungen; es war alles still in der Zelle. Er betrachtete die Tür misstrauisch. Da Evirae befohlen hatte, den Gefangenen zu bewachen, wünschte sie folglich auch nicht, dass ihm etwas zustieß. Der Wächter schloss die Tür auf und spähte in die Zelle.
Der Fandoraner war nirgends zu sehen!
Der Wächter sah sich kurz in der Zelle um. Ein Trick? Vielleicht versteckte der Bursche sich hinter der Tür. Er betrat die Zelle …
»Hallo«, sagte eine Stimme direkt über ihm.
Der Wächter sah nach oben, und eine Wolke aus feinem Staub legte sich über seine Augen. Er konnte nichts mehr sehen, strauchelte rückwärts, stolperte über den Hocker und fiel auf das Stroh. Er hörte, wie etwas auf dem Boden landete … rasche Schritte … das Zuschlagen der Tür. Dies würde der Prinzessin bestimmt nicht gefallen.
Amsel machte vor der Zelle eine kurze Pause, um zu überlegen, welchen Weg er einschlagen sollte. Er erinnerte sich, dass Evirae und die anderen nach links gegangen waren, als sie seine Zelle verließen. Darum ging er nach rechts. Er hastete durch den Tunnel, zuerst so schnell er konnte, dann etwas beherrschter. Der Boden war mit einer dünnen Schicht glitschigen Schlamms bedeckt. Erst jetzt merkte er, wie müde er war. Hoffentlich hat der Wächter sich nicht verletzt, dachte er, während er lief.
Jetzt musste er sich entscheiden, wohin er eigentlich wollte. Er wusste nichts über Simbala. Er hatte von dem Mann namens Falkenwind gehört, wusste aber weder, wer dieser Mann war, noch, wo er war. Einerlei, dachte Amsel, zuerst muss ich sehen, dass ich wieder an die Oberfläche komme.
Plötzlich ertönte weit hinter ihm ein Geräusch wie von einer Explosion; die Echos hallten um ihn herum wider und jagten einander durch den Tunnel. Nach einer Weile wurde Amsel klar, dass der Wächter wohl gegen die Zellentür trat. Kurz darauf hörte Amsel schwere Schritte, die von hinten rasch näher kamen. Der Wächter verfolgte ihn!
Amsel versuchte, schneller zu laufen, aber er war zu erschöpft. Wurzeln schlugen ihm ins Gesicht und nahmen ihm die Orientierung. Der Wächter holte schnell auf. Amsel kam an Gabelungen im Tunnel, matt von Fackeln beleuchtet, und folgte wahllos einmal dieser, einmal jener Abzweigung, in der Hoffnung, seinen Verfolger abzuschütteln, aber der Wächter war ihm jetzt schon so dicht auf den Fersen, dass er Amsel sehen konnte. Amsel sah kurz vor sich ein Loch in der Wand; wenn er das erreichen konnte, war er in Sicherheit. Der Wächter würde es nie schaffen, seine Körperfülle da hindurchzuquetschen. Amsel biss die Zähne zusammen und versuchte ein letztes Mal, schneller zu laufen, aber sein erschöpfter Körper gehorchte ihm nicht. Eine schwere Hand legte sich ihm auf die Schulter. Amsel riss sich los. Sein Fuß glitt an einer matschigen Stelle aus, und Amsel fiel fast hin; der Wächter rutschte hinterher. Amsel taumelte fort von ihm und sah noch, wie der Mann nach einer herunterhängenden Wurzel griff, um das Gleichgewicht zu halten. Die Wurzel gab nach, und dann erfüllte ein merkwürdig rumpelndes Geräusch den Tunnel. Amsel sah die Decke herunterkommen, eine Kaskade aus Schlamm, Wurzeln und Dreck. Er versuchte, sich in Sicherheit zu bringen, wurde aber von einem großen Felsblock an der Schulter getroffen. Er hörte den Wächter um Hilfe rufen. Dann übertönte das Krachen des Einsturzes alles andere, die ganze Welt wurde zu Schlamm, und um ihn herum war Dunkelheit.
Eine plötzliche Windbö erfasste eines der Boote, die vom Kliff in Kap Bage heruntergelassen wurden. Es pendelte auf halber Höhe an drei Seilen hin und her, gefährlich nahe am Fels. Die Insassen klammerten sich an die Seitenplanken, während das schwankende Boot
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