Drachenland: Roman (German Edition)
alten Mann auf das Deck. Sie waren nicht älter als vierzehn oder fünfzehn. Der Junge zu Dayons Füßen versuchte zu sprechen: »Mein Bruder …«
Dayon nickte. »Wir holen ihn raus.«
Tenniel blickte zum nebelverhangenen Strand. »Es tut mir leid, Dayon«, flüsterte er. »Ich kann dem Biest nicht noch einmal gegenübertreten.«
»Tenniel!«
Tenniel wich seinen Augen aus. »Es ist einfach zu … Ich hatte noch nie im Leben solche Angst! Es tut mir leid, aber …«
»In Ordnung«, sagte Dayon leise. »Geh zu meinem Vater und warne ihn.«
»Warne ihn?«
»Wenn hier ein Martar ist, können da draußen zwanzig sein! Sag ihm, er soll dafür sorgen, dass keine Verwundeten im Wasser sind. Blut zieht die Martare an.«
»Noch mehr Martare? Glaubst du das?«
»Nein, aber wir wollen kein Risiko eingehen.« Dayon lief wieder zur Kajüte. »Beeil dich! Es geht um Menschenleben!«
Während Tenniel ins Wasser sprang, wappnete sich Dayon gegen den Anblick der Bestie und betrat die Kajüte wieder.
An der gegenüberliegenden Seite strömte das Wasser tosend durch das Loch im Heck. Das Wasser war zu schnell gestiegen. Der Martar war entkommen!
»Dayon!«
Dayon erschrak. Es war Tenniels Stimme. Er lief zurück aufs Deck, blickte über die Leeseite und sah Tenniel in etwa zwölf Fuß Entfernung im seichten Wasser stehen. Ein Schatten umkreiste ihn.
»Beweg dich nicht!«, brüllte Dayon.
Der Kreis wurde enger. Das Blut aus der Kajüte auf Tenniels Kleidern hatte den Martar angezogen, und er war bereit zum Angriff.
»Dayon, hilf mir!«
Dayon rannte zurück zur Kajüte. Er würde später um Vergebung bitten für das, was zu tun er im Begriff war.
Er stürzte sich in die erstickende Atmosphäre der Kajüte und packte eine der Leichen. Die Berührung mit dem feuchtkalten Fleisch bereitete ihm Übelkeit, aber er zögerte nicht. Er schleppte die Leiche an Deck – ohne das Gesicht anzusehen – und ließ sie über Bord fallen. Das aufspritzende Wasser nahm ihm für einen Moment die Sicht.
Er hörte Tenniel aufschreien – dann herrschte Stille.
Dayon wischte sich die Augen und blickte voller Furcht aufs Wasser. Ein langer dunkler Schatten mit einer rot gefleckten Bürde im Maul bewegte sich auf die offene See zu.
Im seichten Wasser nahe dem Kahn stand Tenniel und sah der Spur aus Schaum und Blut schweigend nach.
»Sprich ein Gebet«, schrie Dayon, »und dann schnell zu meinem Vater. Jeder muss gewarnt werden!«
Viel später zog die fandoranische Armee Bilanz, und es stellte sich heraus, dass wie durch ein Wunder nur zwanzig von eintausend Mann ertrunken oder auf andere, nicht bekannte Weise ums Leben gekommen waren bei der chaotischen Überfahrt. Jetzt lagerten die Männer, zitternd vor Kälte und Nässe. Selbst Jondalrun war der Meinung, dass die Männer wenig erreichen würden, bevor sie sich ausgeruht hatten, ihre Kleidung getrocknet und ihr Hunger gestillt war. Also ließ er ein paar kleine Feuerstellen errichten und Proviant verteilen.
Der Strand stieg nach Osten langsam an und ging in niedrige, felsige Hügel über. Weiter konnten sie nicht blicken. Jondalrun und seine Helfer streiften durch die Gruppen der Männer, halfen den einen und beschwichtigten die anderen.
In den Morgenstunden sah Lagow Jondalrun auf einem großen Stück Treibholz sitzen; der alte Bauer hielt den Rücken gerade und umklammerte mit einer Hand seinen Stock. Er hatte einen Streifen Seetang in seinem wirren weißen Bart und kam Lagow vor wie ein komischer alter Mann aus dem Meer.
Lagow setzte sich neben ihn und staunte über die Zähigkeit des Alten. Lagow hatte selbst zwei Nächte nicht geschlafen und war zum Umfallen müde. Jondalrun war zwanzig Jahre älter, schien aber von eiserner Gesundheit.
»Wir müssen uns bald in Bewegung setzen, Jondalrun.«
Jondalrun zuckte leicht zusammen und blickte Lagow erstaunt an. Lagow, ebenfalls erstaunt, begriff, dass Jondalrun mit offenen Augen geschlafen hatte.
»Ja«, sagte Jondalrun. Er stand langsam auf und stützte sich auf seinen Stock.
Auf Jondalruns Befehl stellten die Männer sich einigermaßen in Reih und Glied auf. Wer seine Waffen noch hatte, trug sie bei sich, andere bewaffneten sich mit Stöcken oder stopften ihre Taschen mit Felssteinen voll. Viele gingen mit leeren Händen. Langsam, murrend vor Hunger und Sorge, marschierten die zerlumpten Verteidiger Fandoras auf die Hügel zu.
Tenniel führte das Kontingent aus Borgen an. Er war müde. Der Zusammenstoß mit dem Martar war
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