Drachenlanze - Die Erben der Stimme
Kindheitskamerad ist ein schöner, junger
Elfenlord geworden. Wen wundert’s, daß er ihr gefällt? Denn
obwohl er als ihr Bruder aufgewachsen ist, weiß sie, daß er es
in Wahrheit nicht ist.«
Tanis wartete, weil er nicht wußte, was er sagen sollte, doch
die Unterredung war anscheinend vorbei. Augenblicke später
stand er allein auf dem Gang.
Kapitel 3
Die Jagd
Vom Himmelssaal aus schaute Tanis dem Sonnenaufgang
zu. Die blassen Strahlen glänzten auf dem Sonnenturm wie
Kupfer und blitzten feurig über die Kristall- und
Marmorgebäude der Stadt. Als die Sonne sich vom Horizont
löste, brach sie durch eine ferne, dunkle Wolkenbank, die tief
am Himmel hing. Die Sonne setzte die Wolken in Brand. Die
Wolken wirkten dunkler als am Vorabend. Tanis machte sich
auf den Rückweg zum Palast und ging direkt zum Stall, wo
Belthar, sein dreijähriger brauner Hengst, stand.
Vor dem grauen Granitstall hatte sich bereits der Adel von
Qualinost versammelt. Tyresian, der schwarze Lederhosen und
einen stählernen Brustpanzer trug, schrie Ulthen von seinem
Hengst Primordan aus Befehle zu. Miral lehnte an einer
Stallwand. Vom Gürtel der roten Tunika mit Kapuze, gegen die
er seine gewöhnliche Robe getauscht hatte, baumelten Beutel
mit Zaubermaterial. Die knielange Tunika war in der Mitte
geteilt, damit der Magier bequem reiten konnte. Mehrere
andere Adlige, deren Namen Tanis nicht einfielen, unterhielten
sich in einem Grüppchen links von der Stalltür. Daneben
sattelte Litanas dem Magier seinen Wallach. Porthios stand
etwas abseits. Er sah zu, sagte aber wenig. Sein Bruder
Gilthanas, in seiner schwarzen Wachuniform, ahmte seine
Haltung nach, was Porthios offensichtlich nicht paßte. Tanis
nickte seinen Cousins zu, als er den Pferdestall betrat, um
Belthar zu holen. Als er den Hengst auf das Pflaster vor dem
Hof führte, sah er Xenoth vom Palast kommen und Flint auf
Windsbraut von Süden heranreiten. Tanis’ Schwert hing an
seiner Seite. Auf der anderen Seite des Packtiers war die
Streitaxt des Zwergs befestigt.
»Na, das ist doch ein denkwürdiges Paar – ein Zwerg auf
einem Maultier und ein Elf, der wahrscheinlich so alt ist, daß er
Kith-Kanan noch gekannt hat«, rief Ulthen Gilthanas zu, der
seinen Bruder ansah und dann schnell ein Lächeln
unterdrückte. Porthios wirkte verärgert. Tanis blieb beim Erben
der Stimme stehen, hielt Belthar an den Zügeln und wartete,
daß Flint ihm sein Schwert brachte.
Lord Xenoth erreichte den Stall als erster. Seine
knöchellange Robe von der Farbe der Sturmwolken, die sich
über ihren Köpfen zusammenbrauten, flatterte ihm um die
Beine. Er fragte Tyresian, wo er sich ein Pferd leihen könnte;
der Berater besaß anscheinend kein eigenes.
»Bei den Göttern, in diesem Aufzug muß Xenoth wohl im
Damensitz reiten!« zischte Porthios Gilthanas und dem
Halbelfen zu. »Selbst Laurana reitet rittlings. Los, hilf ihm,
Tanis. Er kann die Stute Image reiten.«
Tanis gab Gilthanas die Zügel und ging hinüber, um Lord
Xenoth zu helfen. Trotz des Durcheinanders der letzten Tage,
und obwohl er wußte, daß die Freiwilligentruppe eine
mörderische Bestie suchen würde, die bereits mehrere Elfen
umgebracht hatte, war er glücklich, an der Jagd teilnehmen zu
können. Der Halbelf merkte, wie aufgeregt er war. Weder
Tyresian noch Porthios hatten ihn je eingeladen, an einer ihrer
Hirschjagden teilzunehmen
– die waren für den höchsten
Elfenadel reserviert –, aber diesmal konnte Tyresian ihn nicht
abweisen. Tanis schloß die Augen, während er sich vorstellte,
wie die Zweige grün und verschwommen an ihm
vorbeipeitschen würden, während er über die Waldwege
galoppierte. Es würde herrlich sein.
Im düsteren Licht des Stalls blickte Xenothin eine Box nach
der anderen. Anscheinend suchte er ein passendes Reittier für
sich – beziehungsweise passend für den Reiter, der er vor
Jahrzehnten einmal gewesen war. Tanis ging zur Box von
Image und rief ihren Namen. Der gescheckte Kopf der alten
Stute tauchte in der oberen Hälfte der Doppeltür auf. Sie war
ein freundliches Tier und wieherte leise zur Begrüßung; sie und
Tanis waren alte Freunde, und jetzt stellte sie die Ohren auf
und guckte, ob er Äpfel oder andere Köstlichkeiten in der
Tasche hatte. Er zog eine Möhre aus der Tunika, brach sie halb
durch und bot sie ihr auf der flachen Hand an. Er sah zu, wie
ihre weichen Lippen die Nascherei suchten, wie sie sie
krachend zermalmte und schnuppernd nach der zweiten Hälfte
verlangte.
»Tut
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