Drachenlanze - Ungleiche Freunde
Nachmittag dauern.
Miral sah ihn grimmig an, und es wurde noch dunkler im
Raum, als ob das Licht auf die schlechte Laune des Magiers
reagieren würde. »Ich habe dir bereits vom Graustein erzählt.
Jetzt ...« Die rauhe Stimme des Zauberers nahm den Faden
wieder auf. »Wir waren weniger vom Graustein betroffen als
andere Rassen, aber dennoch sorgte der Stein - der, wie du
weißt, die Verkörperung des Chaos ist - überall für Unruhe, wo
er auch hinkam. In Silvanesti, wo ich herkomme ...« Das war
Tanis neu. Er setzte sich auf und wollte eine Frage stellen,
doch bei einem weiteren, strengen Blick des Magiers sackte er
wieder in sich zusammen.
»In Silvanesti lebte einst bei der Hauptstadt Silvanost ein
Elfenlord mit seinen beiden Kindern, einem Sohn namens
Panthell und einer etwas jüngeren Tochter namens Joheric.
Wie es damals, vor den Sippenmord-Kriegen, Brauch war,
würde der älteste Sohn Titel, Ländereien und Reichtum seines
Vaters erben. Die Tochter, Joheric, würde eine ausreichende
Mitgift erhalten, um für eine Ehe mit einem jungen Elfenlord
interessant zu sein, aber sie würde kein Anrecht auf irgend
etwas anderes von den Besitztümern ihres Vaters haben.«
»Wenn man es so darstellt, klingt das ungerecht«, warf Tanis
ein.
Miral nickte und zog die Robe fester um die Schultern. »Das
fand Joheric auch«, fuhr der Magier fort. »Die Situation
machte Joheric zu schaffen, besonders weil es für sie
offensichtlich war, daß sie das Erbe mehr verdient hatte.
Elfenfrauen lernten damals wie heute den Umgang mit Waffen,
auch wenn sie diese - wie heute - dann fast nur bei Zeremonien
in die Hand nahmen. Es war doch eher immer schon Aufgabe
der Männer, zu kämpfen, wenn es nötig war.
Nun, Joheric war mit dem Schwert so gewandt, daß sie ihren
Bruder Panthell bei den Übungskämpfen im Schloß besiegen
konnte. Sie war stärker und schlauer als ihr älterer Bruder.
Aber weil sie das jüngere Kind war, wußte sie, daß sie
wahrscheinlich miterleben würde, wie alles, was ihr zustand,
an den Unwürdigeren fiel. Es müßte doch jeder sehen können,
überlegte sie, daß Panthell ein schlechter Kämpfer ohne
jegliches moralisches Urteilsvermögen war. Sie wußte, daß er
sich nicht zu fein zum Stehlen war, daß er gierig und feige war
und außerdem nicht übermäßig gescheit.«
Tanis knurrte der Magen, und er blinzelte zu dem Teller mit
geröstetem Quith-Pa, den der Zauberer genau außer Reichweite
auf einem Tischchen neben den zwei Sitzen stehen hatte. Der
Halbelf war am Vorabend zu spät gekommen, um sich noch
mit der Familie der Stimme an den Abendbrotstisch zu setzen.
Dann hatten ihn Selbstvorwürfe über seine Unterhaltung mit
Flint bis in den frühen Morgen beschäftigt, und nachdem er
endlich eingeschlafen war, war er zu spät aufgewacht und ohne
Frühstück zu Miral geeilt.
Der Zauberer jedoch interpretierte das Magengrummeln und
den verlangenden Blick richtig und sagte einen Befehl in einer
fremden Sprache, woraufhin der Teller ohne die Hilfe von
Elfenhänden quer über den Tisch zu dem Halbelfen rutschte.
Tanis dankte ihm, bestrich eine Scheibe Quith-Pa mit
Birnenmus und schob sie sich in den Mund.
Miral fuhrt fort. »Joheric wurde immer bitterer bei dem
Wissen, daß all ihr Können und all ihre Begabung ihr nichts
einbringen würden. Sie sehnte sich danach, in die Schlacht zu
ziehen und dem Haus Ehre zu machen. Bald bekam sie im
Drachenkrieg dazu Gelegenheit. Der Krieg zog ihren Vater in
die Kämpfe hinein, und trotz seines entschiedenen Protests
wurde Panthell losgeschickt, sich den anderen Elfensoldaten
anzuschließen. Joheric dagegen blieb zu Hause und übte mit
dem Schwert und mit dem Bogen, bis sie sicher war, daß sie
sich ehrenhaft verteidigen konnte. Aber lange Monate
verstrichen ohne eine Nachricht von Panthell.
»Wurde er getötet?« fragte Tanis.
»Genau das befürchtete Joherics Vater. Er hatte Angst, sein
Sohn und Erbe wäre gefangengenommen worden. Joheric ging
zu ihrem Vater und schwor, sie würde ihren Bruder finden -ein
Schwur, den niemand besonders ernst nahm, denn sie war
schließlich ein Mädchen und erst an die Fünfundzwanzig, also
jünger, als du jetzt bist. Im Schütze der Nacht verließ sie das
Schloß und durchquerte die Wälder von Silvanesti auf der
Suche nach dem Regiment ihres Bruders.«
»Hat sie ihn gefunden?« fragte Tanis, den Mund voll QuithPa. Er las einen Krümel von seinen sandfarbenen Hosen auf.
Miral nickte. »Das hat sie. Doch alles war anders, als sie es
erwartet
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