Drachenlord-Saga 02 - Drachenherz
sah sie viel jünger aus, als sie war. Neben ihr stand ein Beistelltisch. Darauf befand sich ein Korb, der beinahe überquoll von bunten Garnknäueln. Die Nadel, die sie in der Hand hielt, schoß geschwind in das dunkle Tuch und wieder heraus. Eine Halsverzierung für ein Festtagshemd, nahm er an.
Dann blickte sie auf, weil sie irgendwie aufmerksam geworden war.
»Hallo, Virienne«, sagte Raven kläglich.
Sie schwieg und sah ihn nur an.
Mißtrauisch ging Raven ein paar Schritte vorwärts. »Hast du meinen Brief nicht bekommen?« Sollte Iokka gegen seinen Teil der Übereinkunft verstoßen haben …?
Virienne schob sich eine Haarsträhne, die sich aus dem Knoten gelöst hatte, aus dem Gesicht. »Er war wütend«, sagte sie müde. »Wie konntest du ihm so etwas antun? Er hatte erwartet, daß du mit dieser Ladung zurückkehrst und sie verkaufst.«
»Virienne, wie hat er das Versprechen brechen können, das er mir gegeben hatte?« entgegnete Raven. »Wie kann er es rechtfertigen, mich zu etwas zu zwingen, nur weil er es will? Ich bin kein Kaufmann; das wissen wir alle.«
Er rieb sich die Stirn. Der Weidenrindentee, den er zuvor heruntergewürgt hatte, hatte gegen die Kopfschmerzen geholfen, aber nun drohten sie, mit Verstärkung zurückzukehren.
Virienne warf ihre Handarbeit auf die Bank neben sich; der Stoff rutschte zu Boden. »Du undankbarer Welpe! Man überreicht dir die Welt auf dem Silbertablett, und du weist sie ab. Wie gern der arme Honigan hätte, was du hast! Statt dessen muß er sich mit dem zufriedengeben, was du ihm übriglassen wirst, wenn du das Geschäft einmal erbst.«
Die Verbitterung seiner Stiefmutter verblüffte Raven. Nie hatte Virienne so etwas wie Eifersucht gezeigt oder ihn in irgendeiner Weise abgelehnt, seit sie seinen Vater geheiratet hatte, als Raven acht war. Sie hatte ihn niemals anders behandelt als ihren eigenen Sohn, und Raven war dankbar dafür gewesen. Seine Freunde hatten ihm zu viele Geschichten von bösen Stiefmüttern erzählt, als sich herumgesprochen hatte, daß sein verwitweter Vater wieder heiraten wollte.
»Was ich ihm übriglasse?« sagte Raven, entsetzt über ihre Anklage. »Verflucht, Virienne, was mich angeht, kann Honigan das elende Geschäft haben, ich bin froh, wenn ich es loswerde!«
Sie erhob sich und sah ihn an, und ihr Blick sagte ihm, daß sie ihn für einen Lügner hielt.
Das tat weh. Er sagte: »Ich habe das ernstgemeint. Wenn Vater den Wollhandel Honigan hinterließe, wäre ich wirklich froh. Ich weiß, wie schwer Vater gearbeitet hat, um soviel Erfolg zu haben, und ob du es glaubst oder nicht, es würde mich umbringen, zu sehen, daß all seine Arbeit umsonst gewesen sein sollte. Das ist die Wahrheit, ob du mir glaubst oder nicht. Und es wird verschwendet sein, wenn es mir zufallt. Glaubst du denn, das tut nicht weh? Zu wissen, daß es meine Unfähigkeit ist, die Vaters schwere Arbeit wieder zunichte machen wird? Ich will nicht, daß das geschieht. Aber Honigan liebt den Handel ebenso wie Vater. Er sollte derjenige sein, der das Geschäft erbt. Er ist klug, und die anderen Kaufleute achten ihn. Was mich angeht – zur Hölle, Virienne, sie lachen hinter vorgehaltener Hand über mich, wenn sie mich sehen. Sie wissen, daß sie mich jederzeit rupfen können wie ein Huhn.«
Er griff nach ihrer Handarbeit, hob sie auf und schüttelte den Staub ab. »Hier – es wäre eine Schande, es jetzt zu verderben. Du bist beinahe fertig.«
Er hielt ihr den Stoff hin und fürchtete halb, sie würde seine Hand beiseite stoßen.
Aber sie nahm den Stoff entgegen. »Ja, so ist es«, sagte sie, und die Unruhe war aus ihrem Blick gewichen. Statt dessen sah sie resigniert aus. »Als wir geheiratet haben, hat Rotfalk mir versprochen, wenn ich dich wie meinen Sohn betrachte, würde er Honigan wie seinen eigenen halten.«
Raven lachte – ein barsches, verbittertes Lachen. »Ja, so hält Vater seine Versprechen. Du hast deine gehalten. Weißt du, daß es Zeiten gab, in denen ich vergessen habe, daß du nicht meine richtige Mutter warst und Honigan nur ein Stiefbruder?« Er legte ihr die Hände auf die Schulter und sagte sanft:
»Dafür danke ich dir, Virienne. Ich danke dir für all die Zeiten, wo du versucht hast, den Frieden zwischen den beiden störrischen Männern in dieser Familie aufrechtzuerhalten. Warum setzen wir uns jetzt nicht wieder hin und erzählen uns die Neuigkeiten?« fragte er. »Ich glaube, ich habe eine Überraschung für dich«, fügte er hinzu und
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