Drachenlord-Saga 02 - Drachenherz
Nira. Er würde die Macht halten. Für immer, falls das notwendig sein sollte, bis sein Orakel ihn anwies, sie gehen zu lassen.
Oder bis er zu Asche verbrannte.
Shei-Luin erwachte, als der Mann neben ihr sich rührte. Er drehte sich um und legte ihr einen Arm um die Taille.
»Geliebter«, flüsterte sie ihm ins Ohr und schmiegte sich an ihn. »Es dämmert bald.«
Yesuin öffnete blinzelnd die Augen. »Und ich muß wieder durch diese Geheimgänge schleichen. Ich hasse es, wenn wir einander verlassen müssen, Shei-Luin.« Er küßte ihren Hals.
»Ich hasse es ebenso. Aber komm, Liebster, wir haben noch ein wenig Zeit.«
Sie ließ ihre Hand abwärts gleiten und begann, ihn zu streicheln.
Einen Augenblick später war er über ihr. Shei-Luin lachte leise und kam ihm entgegen wie eine Tigerin ihrem Gefährten.
Bilder, schreckliche Bilder wie Alpträume, und dabei war er wach.
Morien schloß die Augen ein paar Herzschläge lang im Flug und tastete mit anderen Sinnen weiter, suchte eine Essenz, die nur er kannte. Sie kam in quälenden Mengen, nie genug, um ihn zufriedenzustellen, niemals genug, daß er hätte sagen können »dort!« und pfeilschnell aufsein Ziel zuschießen. Aber hier und da fing er etwas auf, etwas, das aufblitzte wie Sonnenlicht hinter vorbeihuschenden Wolken und ebenso schnell wieder verschwunden war. Hier, sagte es. Kaum genug, um ihm eine Richtung anzugeben; und dennoch, es genügte. Es mußte genügen.
Er kippte eine Flügelspitze und wendete.
Die Rezitation ging weiter, wallte rings um ihn her auf wie Wasser in einem Brunnen. Pah-ko hielt die Macht des Phönix; und obwohl er das Gefühl hatte, daß ihm jeden Augenblick das Fleisch von den Knochen fallen würde, ließ er sich die Macht nicht wieder entgleiten.
Ihr Ziel: ein Gipfel, der sich über vielen anderen erhob und steil in ein schmales Tal abfiel, das sich zwischen den Bergen
hindurchzog. Es erinnerte Morien an Drachenhort, obwohl es hier kein Schloß gab, sondern einen Komplex von Gebäuden unvertrauter Architektur.
Die Ähnlichkeit wurde jedoch zum Hohn durch das, was von diesem Ort ausging. Denn nun spürte er die ganze Qual des Gefangenen, den Schmerz eines Drachen, der für mehr als tausend Jahre vom Wind, dem Himmel und der Freiheit ferngehalten worden war. Ein Drache, der wie ein Tier an den Boden gekettet war. Nein, nicht einmal das – unter der Erdoberfläche hatte man ihn von der lebensspendenden Sonne und der Luft ferngehalten und es ihm unmöglich gemacht, durch die mondbeleuchteten Wolken und auf dem Wind der Dämmerung zu fliegen.
Angst und Zorn und Schrecken brannten in Morlens Geist. Ihm wurde schwindlig unter diesem Andrang der Gefühle, und am heftigsten traf ihn der Wahnsinn, der unter all den wirbelnden Gedanken des Gefangenen lag.
Aber unterhalb des Sturms spürte Morien einen winzigen Geistesfaden, den er einmal gekannt hatte: Pirakos, ein Echtdrache. Soviel für die alten Geschichten von Jehanglan, dachte er.
*Rettemichrettemichrettemichrettemich.* Erschreckende, wirre Visionen davon, unter Tonnen von Erde erdrückt zu werden, Ketten so fest, daß sie sich durch die Schuppen in das weiche Fleisch darunter geschnitten hatten. Das leidenschaftliche Bedürfnis, noch einmal im Wind zu segeln. Eine Alptraumgestalt: ein riesiger, goldener Vogel, der den Himmel erfüllte, Smaragdaugen voller Haß, feuertriefende Flügel, der die Krallen in seine Brust senkte und riß und zerrte … (Nein! Nicht meine – Pirakos! schrie Morlens Geist), ein krankhafter, tobender Wunsch, sich im Blut dieses Feindes zu wälzen. Sein Herz mit rachsüchtigen Klauen zu zerfetzen.
Aber noch schlimmer als der Wahnsinn war der kurze Augenblick der Wahrheit.
*Töte mich. Es ist die einzige Möglichkeit*
Hätte ein Drache weinen können, dann hätte Morien das nun getan. Seine alten Flügel, bereits müde, versagten ihm beinahe vor Trauer den Dienst.
Entsetztes Geschrei brach um ihn her aus. Morien war nicht der einzige Drache, den Pirakos* Qualen trafen. Geschwader um Geschwader der riesigen Geschöpfe schoß auf den Berg nieder und schrie seinen Zorn in die Morgendämmerung.
So plötzlich, daß der Nira zusammenzuckte, erklang eine neue Stimme. Sie erhob sich über die anderen wie reines, geschmolzenes Gold über die Schlacke seiner Verfeinerung. Dieses Lied kannte keine Worte, aber es brauchte auch keine. Hoch und wild erklang es, herzzerreißend in seiner Süße. Es war der Schrei des Phönix, den Pah-ko in seinen gesegnetsten
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