Drachenlord-Saga 03 - Das Lied des Phönix
hörte sie, wie die letzte Kette riß, und dann das alptraumhafte Kratzen von Pirakos’ Krallen auf dem Felsen, als er aus seinem Gefängnis stieg.
Jetzt! Das Wort klang durch sein ganzes Wesen, ein Befehl, der nicht ignoriert werden konnte, es war Zeit, aus diesem kleinen Tod zu erwachen. Der alte Drache begann den Rückweg ins Leben.
26. KAPITEL
Maurynna raste um die Felsen herum, die in die Höhle vorragten. Ihr Herz klopfte laut, sie rannte nun in blinder Panik, suchte nach einem Tunnel, der sie aus diesem Schlachthaus führte. Sie war sicher, daß dies die Stelle war, wo sie die Höhle betreten hatte.
Sie hatte sich geirrt. Es war nur eine weitere Einbuchtung der gewaltigen Höhle. Luft streifte ihre Wange. Sie kam schlitternd mitten in der Höhle zum Stehen und sah sich verzweifelt nach einem Ausweg um. Auf drei Seiten war sie von Stein umgeben. Wenn sie sich hinter den Felsen verstecken konnte …
Pirakos stand im Höhleneingang, und der Gestank seines verfaulenden Fleischs überwältigte sie beinahe. Ein wahnsinniges Glitzern lag in seinen Augen. *Das hat wirklich Spaß gemacht, Echtmensch, aber jetzt werde ich dich töten – ich werde dich töten, wie alle anderen deiner Art sterben sollen.*
Die Geistesstimme war leise und sogar freundlich. Aber die Blutgier und der Hunger nach Menschenfleisch, der dahinter lauerte, ließ diese Freundlichkeit nur noch erschreckender wirken. Sie sollte aus keinem andern Grund als aus seiner wahnwitzigen Laune sterben.
Aber ich bin kein Echtmensch, Pirakos! Ich bin ein Drachenlord, wie es dein Freund Varleran einmal war, rief sie und klammerte sich an die Vernunft, wie ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammerte, mit dem Bewußtsein, daß es ebenso zwecklos war. In ihrem Kopf klammerte sie sich an eine weitere vergebliche Hoffnung: Kyrissaean …
Shima begleitete seinen Bruder und Raven zu dem verborgenen Pfad, der dorthin führte, wo Boreal und Je’nihahn mit Rasso und Omasua warteten.
»Findet sie«, befahl Shima. »Raven, sie kennen dich; ich bin sicher, daß sie dich und Tefira zurück zu Sturmwind und Zinhuta bringen, wenn ihr es erklärt.«
Raven, der eine Hand auf den tiefen Schnitt in seinem Arm drückte, sah ihn an. Ein lautloser, heftiger Kampf fand statt, dann nickte Raven. Er schwankte. Shima hoffte, daß er nicht das Bewußtsein verlieren würde, bevor sie die Pferde erreichten; Tefira würde einen Mann, der größer war als er selbst, kaum tragen können.
Raven mußte die Sorge in seinem Blick bemerkt haben, denn er holte tief Luft und sagte: »Ich werde es schaffen.«
»Danke, daß du so vernünftig bist«, sagte Shima, denn er wußte, wie schwer es dem anderen fiel, seine Schwäche zuzugeben.
»Es ist wahrscheinlich Zeit, oder?« sagte Raven mit einem kurzen Auflachen.
Shima lächelte und wandte sich ab. Tefira packte ihn am Arm.
»Und du?« fragte sein Bruder entsetzt. »Kommst du nicht mit uns?«
Shima schüttelte den Kopf. »Ich gehe zurück und versuche, Maurynna zu finden.« Er dachte voller Schrecken an die unmögliche Aufgabe, die vor ihm lag.
Raven, die Augen fest zugedrückt, als ob er durch reine Willenskraft und Konzentration seine Schwäche wegzwingen konnte, sagte: »Sprich im Geist mit ihr.«
Im Geist sprechen. Bei den Geistern, das konnte er jetzt, nicht wahr? Shima schloß selbst die Augen und suchte in Gedanken.
Zunächst nichts. Dann … dort! Er hielt sich noch davor zurück, ihren Geist direkt zu berühren; wer wußte schon, was dann geschehen würde? Er konnte ihre Gegenwart spüren, einen Wirbelwind von Eindrücken, dann … Zorn. Angst. Gefahr.
Er riß die Augen auf. »Ich weiß nicht genau, wo sie ist«, sagte er, »aber Pirakos ist frei – und er greift sie an!«
Er konnte sich Pirakos nicht in dieser Gestalt stellen und überleben. Shima dachte keinen Augenblick daran, was er tat. Er lief. Hinter sich hörte er Tefira schreien: »Shima wo – laß mich los!« Und Ravens Antwort: »Er braucht Platz, um sich zu verwandeln.«
Verwandeln. Einen Augenblick lang glaubte Shima, sich in einer der Geschichten zu befinden, die seine Mutter an stillen Sommerabenden erzählte. Aber als er stehenblieb und instinktiv wußte, daß er weit genug gelaufen war, sagte der heiße, feste Stein unter seinen Füßen deutlich: Das ist kein Traum.
Shima ließ seinen Geist leer werden, ließ sich in die Verwandlung fließen. Einen Augenblick später erhob er sich in den türkisblauen Himmel, stieg wie ein Pfeil in die
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