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Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow

Titel: Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Wald voller Bruchholz waren sie gestapft, auf Berge waren sie geklettert – keine Kleinigkeit. Es war einfacher, wenn man nicht wusste, ob man weit gehen musste, aber dennoch …
    »Leg ein bisschen zu, ja?«, bat Tel.
    »Kommst du dann noch mit?«
    »Ja.«
    Natürlich hatte Viktor nach diesem Wortwechsel keine Wahl mehr. Er beschleunigte seinen Schritt und versuchte nicht an den Muskelkater zu denken, den er morgen in den Beinen spüren würde.
    »Wenn es dunkel wird«, trieb ihn Tel wenig später an, »beginnen die Unannehmlichkeiten.«
    Und wieder beschloss er, nicht nachzufragen, jener tief verwurzelten menschlichen Schwäche, über heraufziehendes Unheil zu sprechen, nicht nachzugeben. Die Sonne glitt schon hinter den Horizont, als sie einen weiteren Weißen – oder womöglich wieder Krummen – Berg hinabstiegen und tatsächlich an die Schlucht gelangten. Sie war nicht tief,
aber eng und dämmrig. Die steilen Abhänge waren mit unbekannten Büschen bewachsen, auf dem Grund erstreckte sich ein steiniger Pfad – wie es schien, das Flussbett eines ausgetrockneten Baches.
    »Bleib mal einen Moment hier stehen …«, bat Tel.
    Viktor nickte, ohne sich umzudrehen. Was ging ihn das an, was sie …
    Nach einer Minute trat Tel auf ihn zu, blieb stehen und blickte angespannt nach vorne.
    Eine ganz normale Schlucht. Nichts Schreckliches. Und die versprochene Grenze war weit und breit nicht zu sehen.
    »Wir müssen los«, entschied Tel mit einem Seufzen. »Willst du dir nicht eine Waffe suchen?«
    »Was für eine?«, fragte Viktor ohne Enthusiasmus. »Einen Stock?«
    »Ja, wenigstens das.«
    Nach kurzer Suche brach Viktor einen kurzen, ausgetrockneten Ast von einer – wie er glaubte – Esche ab, die vom Sturm oder von … nein, lieber vom Sturm umgestürzt worden war. Damit konnte er sich höchstens gegen einen aggressiven Pudel zur Wehr setzen, aber Tel sagte nichts. Sie zuckte mit den Achseln und ging los.
    »Lass mich vor …«, begann er, aber er bekam keine Antwort.
    So war das also. Darin bestand seine ganze Funktion – mit einem lächerlichen, morschen Stock hinter dem Mädchen herzutraben. Die Leichtigkeit, mit der Viktor den Ast hatte abbrechen können, flößte nicht eben Vertrauen in dessen Wirksamkeit ein.
    Aber hier in dieser Wildnis, da er nicht wusste, wo er sich befand, und auch nicht, warum, schien es das Klügste zu sein, sich unterzuordnen …

    »Kannst du kämpfen?«
    »Ja.« Viktor hatte beschlossen, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Trotz allem war seine Beschäftigung mit fernöstlichen Nahkampftechniken nicht viel mehr gewesen als der Versuch eines friedlichen Intellektuellen, sich Selbstbestätigung zu verschaffen. Sicher, physisch gesehen vermochte er vielleicht das eine oder andere … aber er hatte sich mehr als einmal die Frage gestellt, ob er im Fall der Notwendigkeit in der Lage wäre, richtig zuzuschlagen. In Gedanken lautete seine Antwort zumeist Ja, aber wer konnte das schon wirklich sagen …
    »Das ist gut. Hier muss man kämpfen können«, sagte das Mädchen.
    »Hier, wo ist das?«, bellte Viktor mit zorniger Stimme. Offenbar sehr laut, denn Tel drehte sich zu ihm um und verzog das Gesicht.
    »In der Mittelwelt.«
    »Das ist die Mittelwelt?«
    »Ja.«
    »Na wunderbar.« Viktor bemerkte nicht, wie er in Fahrt kam. »Endlich wird mir alles klar. Außerdem gibt es noch die Innenwelt und die Außenwelt …«
    »Nein.«
    Er verstummte.
    »Es gibt die Mittelwelt und die Welt der Angeborenen und die Andere Seite. Du kommst von der Anderen Seite.«
    Es klang nicht gerade beleidigend, aber irgendwie langweilig und alltäglich.
    »Und wie sind wir hergekommen? Gibt es ein … äh … Tor zwischen den Welten?«
    »Es gibt Pfade«, erklärte Tel gleichmütig. »Oder hast du vielleicht ein Tor gesehen?«

    Viktor blieb eine Antwort schuldig. Wäre die Stimme des Mädchens nur eine Spur emotionaler gewesen, hätte er vermutlich angefangen zu streiten, entgegen den offensichtlichen Tatsachen hätte er behauptet, dass sie sich in einem Wald am Stadtrand Moskaus befanden. Oder er hätte nach den Details gefragt.
    »Tel, ich verstehe, dass jetzt kein guter Augenblick dafür ist, aber ich habe das Recht …«
    »Ja«, stimmte ihm das Mädchen sofort zu. »Aber sprich leiser, und unterbrich mich nicht. Dies ist ein gefährlicher Ort. Es gibt drei Welten …«
    »Genau drei?« Viktor hatte ihre Bitte, sie nicht zu unterbrechen, sogleich wieder vergessen.
    »Ich kenne keine anderen …«

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