Drachenreiter
Schwefelfell um. »Wahrscheinlich werd ich seekrank«, brummte sie. »Aber trotzdem - du solltest dich wirklich etwas ausruhen.«
Lung nickte und wandte sich wieder der Schlange zu. »Unser Ziel ist das Dorf, vor dessen Küste die Drachen verjagt wurden. Wir wollen dort jemanden besuchen.«
Die Schlange nickte und ließ ihren Hals zurück ins Wasser gleiten. »Ich bringe euch hin«, sagte sie.
DER STEIN
Zwei Nächte und Tage trug die große Seeschlange den Drachen und seine Freunde über das Arabische Meer. Sie fürchtete das Tageslicht nicht, weil sie die Menschen nicht fürchtete. Aber auf Lungs Bitten hin trug sie sie durch Teile des Meeres, in die kein Schiff sich je verirrte. Ihr schuppiger Rücken war so breit, dass Lung darauf schlafen, Schwefelfell essen und Ben herumlaufen konnte. Wenn das Meer ruhig war, glitt die Schlange über das Wasser wie über einen Spiegel aus grünem Glas. Waren die Wellen aber hoch und wild, so wölbte sie ihren Leib so weit in die Luft, dass ihren drei Reitern nicht ein Tropfen Gischt ins Gesicht spritzte.
Schwefelfell besiegte die Seekrankheit, indem sie die köstlichen Blätter aus dem Tal des Dschinns fraß. Lung verschlief fast die ganze Meeresreise. Aber Ben saß meist dicht hinter dem hohen Kamm der Schlange und lauschte ihrer singenden Stimme, während sie ihm von all den Wesen erzählte, die das Meerwasser vor ihm verbarg. Staunend hörte er ihre Geschichten von Nixen und Klabautermännern, achtarmigen Kraken, Fischkönigen und singenden Riesenrochen, von leuchtenden Fischen und Korallenzwergen, von haifischgesichtigen Dämonen und Meereskindern, die auf Walen ritten. So versunken war Ben in die Erzählungen der Seeschlange, dass er Fliegenbein in seinem Rucksack ganz vergaß.
Der Homunkulus hockte mit klopfendem Herzen zwischen Bens Sachen, lauschte Schwefelfells Schmatzen und der zischenden Stimme der großen Schlange und fragte sich bei jedem zweiten Atemzug, wo jetzt wohl sein Meister war.
War Nesselbrand wirklich in die Wüste gezogen? Hielt der Sand ihn noch fest? Hatte er Fliegenbeins Verrat schon bemerkt oder suchte er im heißen Sand immer noch nach Lungs Spuren? Fliegenbeins Kopf zersprang fast von diesen Fragen, aber schlimmer als sie, viel schlimmer, quälte ihn ein Geräusch, das am zweiten Tag ihrer Reise mit der Seeschlange an seine feinen Ohren drang. Es war das heisere Krächzen eines Raben.
Fremd und bedrohlich drang es durch das Rauschen der Wogen, übertönte das Zischen der Schlange und ließ Fliegenbeins Herz heftig pochen. Vorsichtig kroch er ein Stück aus dem Rucksack heraus, der immer noch auf Lungs Rücken hing. Der Drache atmete ruhig und tief im Schlaf. Hoch oben am blauen Himmel, von dem die Sonne heiß herunterbrannte, kreiste zwischen weißen Möwen ein schwarzer Vogel.
Fliegenbein zog den Kopf ein, bis nur noch seine Nase über den rauen Stoff des Rucksacks ragte. Das war bestimmt nicht irgendein verirrter Rabe, den der Wind in diesen Teil der Welt verschleppt hatte - obwohl Fliegenbein das zu gern geglaubt hätte. Nein. Ganz bestimmt nicht. Konnte die Riesenschlange sich nicht einfach aufbäumen und ihn mit ihrer Zunge vom Himmel lecken, wie ein Frosch eine Fliege fängt?
Aber die Schlange warf nicht einmal einen Blick zum Himmel.
»Ich muss mir eine gute Geschichte für ihn ausdenken«, dachte Fliegenbein. »Eine sehr gute. Denk nach, Fliegenbein!« Der Homunkulus war nicht der Einzige, dem der Rabe aufgefallen war.
Während der Nächte hatte die Dunkelheit den schwarzen Vogel verborgen, aber am blauen Himmel konnte Schwefelfell ihn nicht übersehen. Bald war sie sicher, dass er ihnen folgte. Geschickt balancierte sie den Leib der Schlange entlang, nach vorn, wo Ben im Schatten ihres schimmernden Kopfschmucks saß und einer Geschichte von zwei verfeindeten Unterwasserköniginnen lauschte.
»Hast du gesehen?«, fragte Schwefelfell ihn aufgeregt. Die Seeschlange drehte überrascht den Kopf und Ben tauchte unwillig aus dem Unterwasserreich auf, in das ihn die Geschichten hatten versinken lassen.
»Was?«, fragte er und sah einer Herde von Delfinen nach, die den Weg der Schlange kreuzte.
»Na, den Raben!«, zischte Schwefelfell. »Guck mal nach oben. Fällt doch auf, oder?«
Ben blickte zum Himmel. »Stimmt!«, murmelte er verblüfft. »Das ist wirklich ein Rabe.«
»Er folgt uns«, knurrte Schwefelfell. »Schon seit einiger Zeit. Ich bin ganz sicher. Die ganze Reise lang hab ich schon das Gefühl, dass so
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