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Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis

Titel: Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Licia Troisi
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    Ihr Mantel hing an der Garderobe neben der Haustür. Sofia zog ihn einfach über den Schlafanzug und schlüpfte in ihre dicken Winterstiefel. Dann legte sie die Handfläche auf die Klinke, zögerte aber noch einen Moment. Dem Professor würde es nicht recht sein.
    » Wen juckt’s? «
    So hatte Lidja gesagt.
    » Aber im Wald ist es finster und der See … «
    Energisch schüttelte sie den Kopf. Alles Unsinn.
    Sie öffnete die Tür und kalte Luft umfing sie. Fröstelnd zog sie sich den Mantel mit einer Hand noch fester über der Brust zusammen. Es war eine Vollmondnacht, und der Wald wirkte wie eine schwarze Wand, die störend in den erhellten Himmel hineinragte.
    » Es ist nicht weit. Ich muss mich nur beeilen. «
    Sie zögerte nicht länger. Sanft schloss sie die Haustür hinter sich und rannte in den Wald hinein, dabei machte sie so viel Krach wie möglich, um jedes verdächtige und unbekannte Geräusch zu übertönen. Schließlich schlitterte sie die Böschung hinunter und landete im trockenen Laub, das wie ein Teppich das Seeufer bedeckte.
    Da lag sie vor ihr, völlig ruhig, die düstere Wasserfläche, die der Widerschein des Mondes in zwei Hälften teilte. Der Himmel war voller Sterne, Orion und die Plejaden erkannte sie, sanft verschleiert. So saß sie reglos da, die Handflächen auf den Laubboden gestützt, während die Feuchtigkeit in den Mantelstoff kroch.
    Schließlich zog sie mit einem Seufzer die Beine an, legte den Kopf auf die Knie und schaute über den verlassen daliegenden See. Ein friedliches Bild, das sie aber auch traurig stimmte. Sie wurde das Gefühl nicht los, wieder versagt zu haben und somit kein Recht auf das Glück zu besitzen, das ihr so unerwartet zugefallen war. Früher oder später würde man dahinterkommen und alles würde wieder dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne.
    Sie wollte gerade losheulen, als sie den Schatten sah. Er war weit entfernt, erregte aber ihre Aufmerksamkeit, weil er tief über dem See schwebte und ein seltsames Licht verströmte.
    Sie kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, worum es sich handelte, und bemerkte plötzlich, dass der Wald wie verwandelt war. Überall um sie herum knisterte und raschelte es schauerlich und Sofia wurde mulmig zumute.
    Sie war allein, außerhalb der schützenden Mauern des Hauses, und tat etwas Verbotenes.
    Unwillkürlich rückte sie vom Ufer weg, während der Schatten über dem See immer näher kam. Langsam erkannte Sofia ein Paar Flügel. Was für ein seltsamer Vogel mochte das sein?
    Immer weiter wich sie zurück, während ihr Herz schneller und schneller in der Brust hämmerte. Etwas Entsetzliches bahnte sich hier an, das spürte sie genau. Plötzlich war die Gestalt nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt, aber was Sofia da vor sich sah, war so absurd, dass sie nicht einmal schreien konnte, sondern nur wie betäubt dasaß.
    Es war ein dicklicher Junge in einem an mehreren Stellen zerrissenen Schlafanzug, dessen nackte Füße nun ein wenig ins Seewasser eintauchten. Es musste eiskalt sein, aber daran schien er sich nicht zu stören. Seine Miene war so starr wie die eines Toten, nur seinen roten Augen waren weit aufgerissen. Zwei mächtige metallene Flügel, die aus seinen Schultern wuchsen, bewegten sich, um ihn in der Luft zu halten, in schnellem Rhythmus auf und ab und gaben dabei ein leises ununterbrochenes Surren von sich. Doch Sofia hörte es ganz deutlich, denn ringsum war es mit einem Mal völlig still geworden, fast so als verharre auch der Wald in banger Erwartung, was nun kommen sollte.
    » Habe ich dich endlich gefunden«, sprach der Junge mit einer Stimme, die nicht menschlich klang.
    Er streckte einen Arm zu ihr aus und ballte die Faust, und entsetzt erkannte Sofia, dass der Arm aus Stahl und die Faust ein Schlangenkopf war.
    » Nidhoggr! « , dachte sie unwillkürlich, ohne zu wissen, was dieser Name bedeutete und aus welchen Tiefen des Unbewussten er zu ihr aufgestiegen war. Was sie wusste, war aber: Er war das Böse schlechthin.
    » Stirb!«
    Ein Wort, so kalt wie eine Klinge, das monoton über die blutleeren Lippen des Jungen gekommen war. Und schon schnellte aus dem Schlangenmaul eine metallene Zunge hervor und richtete sich auf sie. Im Vorgefühl des Schmerzes, der sie im nächsten Augenblick durchfahren würde, schrie Sofia auf. Doch der Schmerz blieb aus. Stattdessen gab es einen dumpfen Schlag, während gleichzeitig eine irrsinnige Hitze freigesetzt wurde.
    Ungläubig öffnete sie die Augen.

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