Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
Das wäre geschafft«, sagte er.
Mit einem sanften Schubser forderte er sie auf, nun einzutreten, und das tat sie.
Hier war es vollkommen anders als in dem Verlies. Der Raum, der sich vor ihnen auftat, war groß und hell, eine Halle von bestimmt zehn Metern Höhe, deren Wände bis zur Decke mit Marmor verkleidet waren. Durch diesen hellen Stein erinnerte sie stark an Sofias Zimmer und damit auch an die fliegende Stadt Drakonien. Zahlreiche Säulen trugen das weit gespannte Tonnengewölbe, und in die Wände waren in regelmäßigen Abständen Nischen eingelassen, in denen Drachenstatuen standen. Nur eine Statue stellte einen Mann dar, oder genauer einen Jungen, mit traurigem, jedoch auch stolzem Blick, in dessen Stirn ein runder Edelstein eingelassen war. Das Zentrum des Raums aber bildete etwas, das in der Luft zu schweben schien. Es strahlte und war auf die Entfernung nur als eine Art Lichtkugel wahrnehmbar.
» Das ist Lung«, erklärte der Professor, wobei er auf die Statue zeigte. » Und dort in der Mitte ist unser kostbarster Schatz.«
Mit Sofia an der Hand trat er zu dieser Lichtkugel. Je näher sie kamen, desto klarer traten die Umrisse des schwebenden Objekts hervor. Es war ein gläserner Schrein, in dem ein Zweig in einem zartgrünen Licht erstrahlte. Dies war der Quell all des Lichts.
Sofia kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden, und sah nun, dass am Ende des Zweiges eine Blütenknospe saß, die sich mit winzigen Blütenblättchen öffnete.
Voller Bewunderung bestaunte sie den Spross. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen. Obwohl es sich nur um einen Zweig mit einer Knospe handelte, spürte sie, wie einzigartig sie war. Weniger wegen des Lichts, das sie ausstrahlte, sondern weil sie für eine Hoffnung stand, die keinesfalls verloren gehen durfte.
» Dies ist die letzte Knospe des Weltenbaums, Sofia«, erklärte der Professor. » Alle anderen sind verblüht. Lung nahm sie an sich, als Thuban starb. In ihr steckt noch etwas vom Lebenssaft des Weltenbaums. Der Rest ist in den verschollenen Früchten enthalten, die du und die anderen Drakonianer suchen müsst. Im Laufe der Jahrhunderte haben wir Hüter diese kostbare Reliquie von Generation zu Generation weitergereicht. Für uns war sie immer der Kern unseres Glaubens, und auch mir gab sie immer wieder neue Kraft, wenn ich sie strahlen sah, in der harten Zeit, als ich nach dir gesucht habe. Wenn ich verzagt war und glaubte, meine Aufgabe niemals erfüllen zu können, kam ich hierher und wusste wieder, dass nicht alles aus war, weil ich einer Macht diene, die neues Leben hervorbringt.«
Sofia spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Ganz tief in ihrem Herzen verstand sie, was er da sagte, und konnte es mitempfinden.
» Es ist diese Knospe, die unser Haus schützt. Ihre Energie hält die Barriere aufrecht, die uns schützt und für Nidhoggr und alle unüberwindlich ist, die auf der Seite der Lindwürmer stehen. Und hier unten, in ihrer unmittelbaren Nähe, solltest du trainieren. Dadurch wirst du leichter Zugang zu deinen Kräften finden.«
Sofia wandte dem Professor das Gesicht zu und blickte ihn aufmerksam an. Plötzlich fühlte sie sich von einem mächtigen Tatendrang erfüllt und zu jedem Opfer bereit, im Dienste dieser strahlenden und doch so zerbrechlichen Hoffnung, die der Zweig und die Knospe verkörperten.
» Wann fangen wir an?«
Der Professor lächelte. » Jetzt!«
13
Die Vision
Noch in Kleidern, warf sich Sofia aufs Bett. Es wurde bereits hell und die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Sie spürte ein leichtes Pfeifen in den Ohren, doch der Professor hatte ihr versichert, dass dies eine Nebenwirkung der Knospe auf alle Drakonianer sei. Das sei völlig normal, sie brauche sich keine Gedanken zu machen. Jetzt drehte sie sich auf den Rücken und starrte zur Decke. Das alles war nicht so leicht. Zwei Wochen trainierte sie bereits, hatte aber den Eindruck, nicht von der Stelle zu kommen oder höchstens im Schneckentempo Fortschritte zu machen.
Als sie die Knospe zum ersten Mal gesehen hatte, war sie sogleich von größter Hoffnung erfüllt gewesen und hatte beschlossen, wirklich ihr Bestes zu geben. Was sie an diesem Tag jedoch erreichte, war alles andere als Erfolg versprechend gewesen.
Der Professor hatte sich bemüht, sie Thuban in sich spüren zu lassen, damit sie sich antrainierte, ihn in größter Gefahr wahrzunehmen und sich von ihm helfen zu lassen. Anfangs glaubte sie noch, es fehle ihr lediglich
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