Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat
sie Säuglinge töteten und Frauen verhexten, damit sie keine Kinder mehr bekamen, dass sie Pferden gegenseitig die Mähnen verflochten oder Liebestränke zubereiteten. Die Drachenschwester wusste nicht, ob sie das alles glauben sollte. Die Magie war etwas Echtes, etwas Greifbares in ihrem Leben, und auch das Böse war etwas Reales, wie sie am eigenen Leib erfahren hatte. Aber Nidhoggrs Kräfte waren eine unnatürliche, entsetzliche Form der Magie. Wie waren dann also diese Hexen einzuordnen? Ob sie wirklich Nidhoggrs Dienerinnen waren? Oder hatte ihr Kult in anderer Weise mit dem abscheulichen Lindwurm zu tun? Als sie damals in der Villa Mondragone gegen Nidhoggrs Dienerin Nida kämpfte, hatte sie sehen können, was von einem Ort übrig blieb, an dem Menschen über Jahrhunderte den Herrscher der Lindwürmer verehrt hatten.
Und nun fragte sie sich, ob dieser Nussbaum, von dem in allen Büchern immer wieder die Rede war, tatsächlich der aus Lidjas Traum war.
›Der Baum, unter dem sich die Hexen versammelten, scheint etwas Böses an sich gehabt zu haben. Der aus Lidjas Traum aber hat die Erde um ihn herum fruchtbar gemacht‹, überlegte sie. Sicherheitshalber suchte sie noch einmal nach Hinweisen zu dem Standort des Baumes und entdeckte, dass ein Bischof ihn hatte fällen lassen. Trotzdem suchte sie weiter. Zumindest wollte sie herausfinden, wo er einmal gestanden hatte.
»Hallo, Fräulein …!«
Sofia schrak zusammen und blickte geradewegs in das griesgrämige Gesicht der Bibliothekarin.
»Ich hatte dir doch gesagt, dass wir um halb sechs zumachen.«
Sofia tauchte aus ihren Gedanken auf, schaute aus dem Fenster und sah, dass es schon dämmerte. Sie war derart in ihre Lektüre vertieft gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, wie spät es mittlerweile geworden war. »Tut mir leid, ich habe mich festgelesen …«
»Nicht schlimm, aber jetzt muss ich abschließen, also komm …« Und damit ergriff die Bibliothekarin Sofias Arm und schob sie sanft, aber entschlossen in Richtung Tür.
»Kann ich das Buch denn nicht wenigstens ausleihen?« Wo der Baum gestanden hatte, hatte sie immer noch nicht herausgefunden, und sie wollte unbedingt weitersuchen.
Die Frau schaute sie an, als habe sie einen völlig abwegigen Wunsch geäußert. Dabei waren Bibliotheken doch dazu da, Bücher auszuleihen.
»Kennst du denn unsere Ausleihbedingungen? Wer Bücher beschädigt oder verliert, muss für den Schaden aufkommen.«
»Das ist doch klar. Aber ich behandle Bücher immer ganz sorgsam, vor allem, wenn sie nicht mir gehören«, erwiderte Sofia ein wenig gekränkt.
Die Frau blickte sie forschend an. »Gut, aber dann brauche ich noch deine Personalien …«
Sofia begann, alle persönlichen Daten herunterzuleiern, Name, Geburtsort, Geburtstag, doch als sie den Zirkus als Adresse nannte, wurde die Bibliothekarin misstrauisch und blickte sie feindselig an. Aber schließlich durfte Sofia das Buch tatsächlich einstecken.
Zufrieden verließ sie das Gebäude: Das war ein aufschlussreicher Nachmittag gewesen. Und der Tag war noch nicht zu Ende. Sie blickte die Hauptstraße hinauf, im Herzen die uneingestandene Hoffnung, den mysteriösen Jungen wiederzusehen. Dann fiel ihr der einsame Garten mit den Skulpturen ein. Sie seufzte. Einen besseren Ort, um sich weiter mit den Hexen und ihrem sagenhaften Nussbaum zu beschäftigen, konnte es nicht geben.
Auf ihrer Lieblingsbank machte sie es sich bequem und tauchte im Schein einer Laterne wieder in die Welt der Sagen mit ihren oft grausamen Taten ein. Sie las von Kulten und Bräuchen rund um den Nussbaum, aus denen sich wahrscheinlich die Sagen über die beneventanischen Hexen entwickelt hatten, von der ägyptischen Göttin Isis, die offenbar mit einem Kult verehrt wurde, der sich als Hexerei interpretieren ließ, und von den Langobarden, die einmal hier geherrscht und einen ihrer Götter mit einem Baum-Ritus gefeiert hatten. Dazu hatten sie in den Baum ein Tierfell gehängt, das sie immer wieder, in einem nachgestellten Kampf, mit einer Lanze durchstachen. Sofia las von eigentümlichen, jahrtausendealten Riten, von vergessenen Göttern und faszinierenden Geschehnissen. Und bei allem achtete sie darauf, ob und in welchem Zusammenhang der Nussbaum erwähnt wurde. Immer noch fand sie keine genaue Angabe seines Standorts, aber der Sage nach war der Baum mehrere Male gefällt worden und immer wieder am selben Ort nachgewachsen.
Als Sofia das Buch zuklappte, war es stockdunkel. Sie war völlig
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