Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat
durchgefroren, und ihr Magen knurrte heftig. Sie wunderte sich ein wenig über diese Hungerattacke und schaute auf die Uhr. Es war fast neun. Während sie gelesen und sich Notizen gemacht hatte, waren dreieinhalb Stunden wie im Fluge vergangen, und dabei hatte sie vollkommen vergessen, dass man im Zirkus auf sie wartete. Vielleicht suchten sie bereits nach ihr.
Sie sprang auf, klemmte sich das Buch unter den Arm und rannte zum Tor. Es war zu. Natürlich, der Hortus Conclusus wurde abends abgeschlossen, und da sie so still in die Lektüre vertieft gewesen war, hatte niemand sie bemerkt. Zum Glück war es nicht sonderlich schwierig, den Garten zu verlassen. Eine Drakonianerin zu sein hatte schon Vorteile. Sie musste sich noch nicht einmal groß konzentrieren: Das Mal auf ihrer Stirn, das sonst kaum auffiel, begann sich zu erwärmen und zu strahlen, bis es wie ein grüner Edelstein glitzerte.
Jeder Drakonianer hatte eine spezielle Gabe: Die von Lidja war die Telekinese, die von Sofia, Lebendiges hervorzubringen. So konnte sie aus dem Nichts Pflanzen sprießen lassen oder bereits bestehende zu ungeheurem Wachstum anregen und sie nach ihren Wünschen formen und steuern. Anfangs hatte Sofia in ihrem Talent nicht mehr als das Vermögen eines guten Gärtners sehen können, aber als ihr dann diese Gabe gleich mehrmals das Leben rettete, hatte sie sie zu schätzen gelernt. Jetzt legte sie eine Hand an die Verriegelung des Tores. Sofort spross aus einem Finger ein dünner, elastischer Zweig hervor, der in den Zylinder des Schlosses eindrang. Nach wenigen Sekunden sprang der Schnapper zurück, und das Tor ging auf.
Im Laufschritt machte sich Sofia auf den Weg nach Hause. Plötzlich war ihr unheimlich geworden. Als sie kurz darauf die Hauptstraße erreichte, schien mit einem Mal die Zeit stehen zu bleiben. Alles um sie herum verlor seine Farben, die Gebäude glichen sich einander an und büßten alle besonderen Merkmale ein, die Fenster wurden zu leeren Augenhöhlen. Die Hauptstraße war die Straße aus ihrem Traum geworden, die sich dann in Nidhoggrs schuppigen Rücken verwandelt hatte. Sie war es. Wie ein Blitz traf sie diese Erkenntnis. Denn jetzt, als sich Wirklichkeit und Vision überlagerten, wusste sie: Die Pflastersteine, weiß, grau und rötlich, unter ihren Füßen waren die Schuppen, an die sie sich erinnerte, und es war offensichtlich, glasklar, dass sie sich in Kürze zu den gewundenen Umrissen einer Schlange fügen würden. ›Nidhoggr ist hier!‹
Die Erkenntnis ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Doch da war die Vision schon wieder verschwunden. Erneut stand sie auf der Hauptstraße, die menschenleer und verlassen vor ihr lag. Verwirrt schaute Sofia sich um. Und in diesem Moment geschah es. Ganz in der Nähe erblickte sie eine Gestalt, die rasch zu einer nahen Kirche schlich. Sofia erinnerte sich an diese Kirche, denn sie trug ihren Namen: Santa Sofia.
Ihr blieb die Luft weg, denn obwohl die Gestalt noch ein Stück entfernt war und sich flink bewegte, hatte Sofia sie sofort erkannt. Es war der mysteriöse Junge.
Er blieb an dem Tor seitlich der Kirche stehen und sah sich verstohlen um. Dann blitzte etwas auf, und aus seinen Schultern sprossen zwei riesengroße transparente Flügel, deren metallische Streben in dem fahlen Licht funkelten. Ein kurzer Flügelschlag, und der Junge hob ab, gerade hoch genug, um das Tor zu überwinden. Dann verschluckte ihn die Finsternis, die sich dahinter ausbreitete.
Wie versteinert stand Sofia da. Ihr Herz, das ihr gerade noch heftig in der Brust gehämmert hatte, schien stehen geblieben zu sein.
Der Junge von vorgestern Abend, dieser Typ, an den sie in den zurückliegenden zwei Tagen fast pausenlos gedacht, dessen Züge sie in den Gesichtern der Menschen um sie herum gesucht hatte, dieser Junge war ein Unterjochter.
8
Der erste Kampf
Sofia schaute sich um: Es war niemand unterwegs. Da rannte sie los, über den Platz, zu dem schwarzen Gittertor, das der Junge gerade überflogen hatte. Sie hatte wieder seine schlanke Gestalt vor Augen, die verdammten Flügel, die aus seinen Schultern gesprossen waren.
»Denk nicht mehr dran, tu einfach, was du zu tun hast«, ermahnte sie sich streng.
Wieder streckte sie den Finger aus, und erneut schoss eine Ranke daraus hervor, schlängelte sich ins Schloss und ließ den Riegel zurückschnappen. Sofia ging hinein. Einmal hatte sie die Kirche besucht, aber in diesem Kirchhof stand sie zum ersten Mal. Vor sich sah sie einen schmalen
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