Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat
Bibliothek. Ich wollte morgen hingehen und die Bücher durchsehen.«
»Ja, mach das. Unbedingt«, pflichtete Lidja ihr trocken bei.
»Zu Befehl!« Wie ein gehorsamer Soldat legte Sofia die Fingerspitzen an die Stirn. Die Tatsache, dass sie endlich eine Spur gefunden hatten, versetzte sie in gute Laune.
Viel zu früh traf sie am nächsten Tag vor der Bibliothek ein. Sie kannte die Öffnungszeiten nicht, und hoffte, dass man dort keine lange Mittagspause machte. Doch als sie um halb drei da war, stand sie sich noch ein halbe Stunde vor der geschlossenen Tür die Beine in den Bauch. Lidja musste trainieren und war deshalb im Zirkus bei Alma geblieben. Die Tante wusste von Lidjas besonderen Kräften. Als der Professor sie aufgesucht hatte, um sich mit ihr über Lidjas Zukunft zu unterhalten, hatte er sie andeutungsweise in das Geschehen eingeweiht. Sofia wusste davon, denn bevor der Professor abgereist war, hatte er noch leise zu ihr gesagt: »Falls es irgendwelche Probleme gibt, Alma, kannst du dich anvertrauen. Einige Dinge musste ich ihr sagen.«
Wieso er das hatte tun müssen, war Sofia allerdings nicht so ganz klar gewesen. Aber Lidja hatte ihr noch einmal erzählt, dass Alma wie eine enge Verwandte für sie war.
»Meine Großmutter und Tante Alma waren wie Schwestern. Sie haben sich damals während des Krieges sehr geholfen und haben als Einzige aus der Zirkustruppe überlebt. Das hat sie für immer zusammengeschweißt.«
Die anderen im Zirkus hatten allerdings überhaupt keine Ahnung von ihren außergewöhnlichen Kräften. Jedes Mal mussten sich die Mädchen einen Vorwand einfallen lassen, um ihre Abwesenheit zu rechtfertigen. »Es ist für die Schule. Ich muss etwas für ein Referat erarbeiten«, lautete heute die Lüge des Tages, eine Entschuldigung, die in allen Lagen zu gebrauchen war.
Obwohl sie in Bergen historischer Wälzer versinken würde, machte Sofia sich begeistert an die Arbeit. Sie las ausgesprochen gern, allerdings nur Romane, Abenteuergeschichten und Fantasy. Und keine dicken wissenschaftlichen Arbeiten. Jedenfalls legte sie ihre Liste der Bibliothekarin vor, einer hageren, mürrischen Frau, die ihr beim Heraussuchen einiger Bände half. Als sie dann vor dem hohen Stapel saß, spürte sie, wie die Begeisterung verrauchte. Wollte sie die alle durchlesen, wäre sie ihr ganzes Leben beschäftigt. Es war fast so wie damals im Waisenhaus, wenn sie als Hausaufgabe selbstständig ein Thema erforschen sollten. Im Grunde hasste sie solche Recherchen. Normalerweise gelang es ihr einfach nicht, die vielen mühsam gefundenen Informationen zu ordnen. So hatte sie zum Schluss zwar viele Heftseiten vollgeschrieben, aber sie ergaben keinen rechten Sinn: Die Notizen passten nicht zusammen und bildeten nur eine unverdauliche Mischung verschiedenster Stilrichtungen. Zum Fürchten und Davonlaufen, wie das Ungeheuer von Doktor Frankenstein.
Doch heute war es anders. Dieses Mal machte es ihr fast Spaß. Anfangs versank sie zwar, wie befürchtet, in langen historischen Abhandlungen, verlor sich in den Ahnenreihen langobardischer Herzöge und Edelleute, die einst die Stadt Benevent beherrscht hatten: Arichis, Siko oder Zotto. Dann aber gelangte sie zu den Büchern, die sich mit der Sagenwelt der Region beschäftigten, und da fiel es ihr leicht, sich ganz von der Lektüre einnehmen zu lassen.
Offenbar war Benevent einmal so etwas wie eine Hauptstadt der Hexerei gewesen, oder zumindest hatte nicht viel dazu gefehlt. Die Verse, die die alte Frau gemurmelt hatte, waren ein Zauberspruch, mit dem die Hexen in die Stadt gerufen wurden, wo sie sich dann unter einem heute nicht mehr auffindbaren Walnussbaum zum Hexensabbat versammelten. Soweit Sofia verstand, war so ein Hexensabbat ein Mittelding zwischen einem hemmungslosen Abend in der Disco und einer satanischen Opferfeier. Sie fand Protokolle von Hexenprozessen und schauerliche Berichte über Folterungen, die angebliche Hexen während der Verhöre zu erleiden hatten. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie von Folterwerkzeugen las und den Qualen, die sie den Frauen verursachten. Immer wieder war auch von dem Walnussbaum die Rede. Fast in jeder Sage wurde er erwähnt und schien demnach der zentrale Bestandteil aller Rituale gewesen zu sein. Im Schutz seiner ausladenden Äste versammelten sich die Frauen, und der Baum verlor, wie es hieß, niemals seine Blätter.
Sofia erfuhr, welche Rituale sie vollzogen, und auch, was man den sogenannten Hexen vorwarf und nachsagte: dass
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