Drachenschwester 02 - Eltanins Verrat
Ruinen des Amphitheaters, deren Umrisse der wenige Schnee, der liegen geblieben war, nachgezeichnet hatte. Sie wirkten schaurig, die Bögen sahen aus wie die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels. Dahinter aber lag eine undurchdringliche Finsternis.
Schließlich gelangten sie zu einer etwa einen Meter hohen Skulptur. Es war ein Fratzengesicht, wie Sofia es gesucht hatte. Furchterregend sah es aus. Die Augen waren tiefe, unnatürlich breite Löcher unter dichten gebogenen Augenbrauen. Die Nase fehlte, und der Mund war ein finsterer Schlund. Der Schnee betonte die Gesichtszüge und ließ die Fratze noch grotesker wirken. Sofia erkannte sie wieder: Es war genau das Gesicht, das sie in der Vision gesehen hatte. Ein Irrtum war ausgeschlossen.
»Dort ist er«, sagte die Alte. »Wenn du ihn haben willst, musst du ihn dir holen.«
Sofia nahm allen Mut zusammen, trat vor und streckte die Hand aus, bis sie den Stein berührte, steckte sie zögernd in den Mund der Fratze und fuhr immer tiefer hinein. Schließlich war ihre Hand ganz verschwunden, und ihr war, als würde ganz hinten in der Kehle der Fratze der Stein plötzlich weich. Ein entsetzliches Gefühl, und einen Moment fürchtete sie, ihre Hand sei gefangen und sie käme nicht mehr fort. Doch dann berührten ihre Finger etwas Hartes, Kühles: Metall.
Der Schlüssel!
Rasch zog sie die Hand zurück. Der Schlüssel war einige Zentimeter lang, aus Messing, und längs des Schafts war ein Drache eingraviert. Geschafft!
Plötzlich vibrierte die Luft, ein kaum wahrnehmbarer Laut ertönte in der gedämpften Stille dieser Schneenacht. Ihr sechster Sinn rettete sie, denn unwillkürlich warf die Drachenschwester sich zur Seite, während ihr Mal hell zu funkeln begann.
Eine Klinge verfehlte sie nur um Haaresbreite und bohrte sich in den Stein. Das war er. Fabio. Er hatte die Waffe auf sie geschleudert.
»Ich will nicht mit dir kämpfen!«, schrie Sofia.
Fabio lachte. »Kein Problem. Dann gib mir freiwillig den Schlüssel, und dir wird nichts geschehen.«
Das Mädchen versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Warum stehst du auf seiner Seite?«
»Für so sinnloses Gelaber hab ich keine Zeit. Halt’s Maul und rück den Schlüssel raus!«
»Aber du bist einer von uns. Du bist wie ich.«
Sofia bemerkte einen Anflug von Unsicherheit bei ihm.
»Wenn schon, dann bist du so wie ich. Aber das hat gar nichts zu bedeuten.«
»Doch, das hat es.«
Mit einem Mal erfüllten Thubans Erinnerungen sie mit herzzerreißender Wehmut. Und sie sah Fabio so, wie Thuban ihn vor Jahrtausenden gesehen haben musste, als auf der Erde noch die Drachen herrschten.
Eltanin, der Freund, der Gefährte, der junge, eigensinnige, wankelmütige Drache, der ihn verraten und freiwillig Nidhoggrs Ziele zu den eigenen gemacht hatte, der einzige Drache, gegen den Thuban jemals hatte kämpfen müssen.
»Du musst dich erinnern«, flehte Sofia. »Du kannst Thuban nicht vergessen haben, deinen Freund, deinen Meister. Erinnerst du dich denn nicht an Drakonien? Wie wir gemeinsam über die weißen Dächer unserer Hauptstadt geflogen sind, an all die Dinge, die du in den Jahren bei mir gelernt hast? Weißt du nicht mehr, wie wir uns im Schatten des Weltenbaums ausgeruht haben und ich dir Geschichten erzählt habe, Geschichten über uns Drachen? Du hast dich gefreut und gelacht, dann hast du dir selbst neue Geschichten ausgedacht, um mir eine Freude zu machen.«
Sie sah, wie sich sein Blick veränderte. Er erinnerte sich, an irgendetwas erinnerte er sich!
»Erinnerst du dich nicht an Eltanin? Hast du ihn nicht wenigstens mal im Traum gesehen? Ich kenne ihn, den jungen starken Drachen mit seinen prachtvollen goldgelben Schuppen.«
Zorn flackerte in Fabios Augen auf. »Dieser Drache war ein Feind von dem, den du in dir trägst.«
»Das kann sich doch wieder ändern! Nidhoggr hat dich nur benutzt. Verstehst du das denn nicht?«
Fabios Hand senkte sich ein wenig, sein Blick wirkte noch unsicherer als vorher. Sofia stemmte sich hoch und trat langsam auf ihn zu. Sie streckte den Arm aus, um ihn zu berühren, um ihn zu beruhigen. Da schnellte plötzlich eine Hand vor und schnürte ihr die Kehle zu. Sie versuchte sich zu wehren, konnte sich aber schon nicht mehr bewegen, und spürte gleichzeitig, wie sich ihr Brustpanzer auflöste und auf der Haut zu brennen begann.
»Ratatoskr!«, schrie Fabio.
Hinter ihr stand genau der Handlanger Nidhoggrs, der ihr auch gefolgt war, als sie Rastabans Frucht geborgen hatte.
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