Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
zog es vor, nichts zu erwidern. Sie stand einfach da und tropfte den Boden nass. Offenbar war das die richtige Strategie, denn der unverschämte Kerl bewegte sich endlich. Aus einer Truhe an der Felswand wühlte er einen cremefarbigen Kittel hervor und warf ihn vor Janicas Füße.
»Hier, zieh das an!«
»Was, dieses Ding? Bin ich vielleicht ein Bauernweib?«
»Dann läufst du eben weiterhin nackend herum. Ist mir auch egal!« Er hob resignierend die Schultern, dann setzte er hinzu: »Nein, ist mir nicht egal, denn du bist ein durchaus erfreulicher Anblick! Außerdem hat mich das Gewand ein ganzes Goldstück gekostet. Es ist aus der Wolle der Nordziegen gewebt, die nicht geschoren, sondern ausgekämmt werden, weil sie sonst erfrieren würden. Das Wollvlies dieser Tiere ist weicher als Eiderdaunen. Ich weiß ja nicht, in welche Gewänder du dich bisher gekleidet hast, aber das hier ist nicht nur das Beste, sondern auch das Einzige, was ich dir anbieten kann!«
Er drehte sich um und ging zu dem großen gemauerten Kamin inmitten der Höhle, dessen Schornstein oben im Fels verschwand und offensichtlich nach draußen führte, sonst wären die Bewohner dieser merkwürdigen Unterkunft im Qualm erstickt. Janica nutzte den Moment, in dem der Mann Holzscheite in die Glut legte, um das Badetuch fallen zulassen und das schlichte Gewand aufzuraffen. Rasch schlüpfte sie in das Wollkleid. Ein Blick an sich hinab sagte ihr zwar, dass sie in der Tat aussah, als hätte sie sich einen Sack übergestülpt, aber der grob gewebte Stoff schmeichelte ihrer Haut weich und mollig.
»Gibt es etwas Gutes zu essen?«, krächzte eine heisere Stimme hinter Janica. Sie fuhr herum und starrte einem alten Mann ins faltige Gesicht. Graues Haar stand in kleinen kurzen Büscheln vom Schädel ab und borstige Bartstoppeln machten das hagere Gesicht mit der spitzen Nase auch nicht gerade attraktiver. Der Greis war lässig in weite Hosen und einen Überwurf gekleidet, die aus dem gleichen Stoff gefertigt schienen wie Janicas Kittel.
»Ach, Onkel Kajim, jetzt hast du unseren Gast erschreckt! Der Tag war aufregend genug für das arme Mädchen!« Der unverschämte Bursche sah nur kurz auf, schürte das Feuer und schwenkte einen Kessel über die Flammen.
Der Alte kicherte leise und schlurfte in seinen viel zu großen Hauspantinen zum Tisch. Er griff nach der Weinkaraffe und goss sich einen Becher voll, den er mit einem einzigen gierigen Zug leerte.
»Wie heißt du überhaupt, Kleines?«
Janica straffte die Schultern und gab sich Mühe, furchtlos dreinzuschauen.
»Ich bin Janica, die Prinzessin des Westlichen Königreiches! Mein Vater wird Euch mit Gold überhäufen, wenn Ihr mich unbeschadet zurück in den Palast bringt!«
»Sieh an, sieh an, der gute Fernek musste uns aus unerfindlichen Gründen das eigene Töchterchen schicken!« Der Alte nahm ein großes Messer vom Tisch auf und hieb eine Melone in zwei Hälften.
»Sagen wir mal so, meine Schöne, du warst bis heute zum Sonnenuntergang die verwöhnte Prinzessin. Ab sofort bist du ein Mädchen wie jedes andere. Und jetzt wollen wir einmal sehen, was uns der liebe Kana-Tu gekocht hat!«
Janica starrte den merkwürdigen Onkel an, und sie wusste nicht recht, warum er ihr so bekannt vorkam. Über die Nase des Alten lief ein blutiger Kratzer, seine Augen funkelten gelblich, und die sehnigen Finger sahen Klauen verflixt ähnlich.
Sie fasste sich ein Herz: »Was passiert jetzt mit mir?«
Kajim sah nur kurz auf von der Melone, aus der er mit dem Messer die Kerne auspulte.
»Das, was mit all den kleinen Jungfern vor dir schon passiert ist. Wir verkaufen dich auf dem Sklavenmarkt im Sultanat Wasserland. Junge Frauen sind dort Mangelware. Du mit deinem Goldhaar hast sicher das Glück, dass dein Käufer dich heiratet, in Seide hüllt und mit Schmuck überhäuft. Also, Janica, setz' dich zu mir und lass' es dir schmecken.«
Janica öffnete den Mund, doch bevor sie einen Ton sagen konnte, hob Kajim die Hand.
»Nein, ich bringe dich nicht zurück in Ferneks Palast, auch wenn du meinst, der König würde mir mehr zahlen als der Sklavenhändler. Erstens glaube ich das nicht, denn so reich, wie du vielleicht meinst, liebe Prinzessin, sind die Schatzkammern des Westlichen Königreiches nicht gefüllt. Und zweitens habe ich einen guten Ruf zu verteidigen! Was glaubst du, was die Leute von mir halten würden, wenn ruchbar würde, dass der Drache seine Opfer nicht verspeist! Ha! Jeder Respekt wäre dahin!
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