Drachenspiele - Roman
verabschiedeten«, log Paul. Wenn Yin-Yin ihrem Freund nichts von ihrer Internet-Aktion erzählt hatte, musste sie ihre Gründe dafür haben. Es war nicht an ihm, Weidenfeller einzuweihen. »Vielleicht hat sie bei einer Kommilitonin übernachtet, mit der sie heute zusammen übt. Ich bin mir sicher, es wird sich in den nächsten Stunden alles aufklären«, sagte er gegen seine Ãberzeugung.
»Hoffentlich. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas hören«, bat Weidenfeller.
»Selbstverständlich. Sie mir bitte auch.«
Paul machte Tee, nahm das schnurlose Telefon, setzte sich in den Garten und rief Rechtsanwalt Chen in Shanghai an.
»Paul Leibovitz, Sie erinnern sich?«
»Aber natürlich. Ihre Freundin, Wu Yin-Yin, war vor ein paar Tagen bei mir und â¦Â«
»Sie hat Ihren Rat befolgt und einen Text über Sanlitun und das Schicksal ihrer Mutter ins Internet gestellt«, unterbrach ihn Paul. »Seit gestern fehlt von ihr jede Spur.«
Stille.
»Hat sie es von einem öffentlichen Internet-Café aus gemacht?«, fragte Chen nach einer langen Pause.
»Ja. Soviel ich weiÃ, ist sie extra nach Pudong in ein Teehaus gefahren, damit ja niemand sie erkennt und sie keine Spuren hinterlässt.«
»Seltsam«, murmelte der Anwalt leise. »Wahrscheinlich war sie beim Schreiben des Textes unvorsichtig und hat sich darin verraten.«
»Nein. Ich habe ihn gelesen. Er ist sehr gut und gibt keinerlei Hinweise auf die Identität des Autors. Wie könnte jemand herausgefunden haben, dass Yin-Yin die Verfasserin ist?«
»Ich weià es nicht. Sie muss einen Fehler gemacht haben«, sagte Chen nachdenklich.
»Sie hat mir den Text geschickt, ich fand, dass â¦Â«
»Sie hat was?«
»Mir den Entwurf geschickt«, wiederholte Paul verwirrt.
»Wie?«
»Per E-Mail, natürlich.«
»Verflucht! Wie konnte sie?«, rief Chen. »Das war ihr Fehler. Ihre E-Mails wurden überwacht.«
Paul stöhnte erschrocken auf.
»Das ist die einzige Erklärung. Sie muss vorher Verdacht erregt haben. Hatten Sie in Yiwu oder Shanghai das Gefühl, beschattet worden zu sein?«
»Nein«, sagte Paul. »Aber ich habe darauf auch nicht geachtet. Vielleicht hatte der Einbruch etwas damit zu tun?«
»Welcher Einbruch?«
»In Yiwu wurde in Yin-Yins Hotelzimmer eingebrochen.«
»Warum haben Sie mir davon nichts erzählt?«, erwiderte Chen vorwurfsvoll.
»Ich sah keine Verbindung zu unseren Nachforschungen. Ich hielt es für versuchten Hoteldiebstahl«, entschuldigte sich Paul, stand vor Nervosität auf und ging im Garten auf und ab.
»Wie haben Sie in Yiwu recherchiert? Abgesehen von den Gesprächen mit meinem Kollegen Gao und diesem Journalisten? Haben Sie offizielle Stellen kontaktiert?«
»Nein. Ich habe im Internet sehr viele Informationen über die Minamata-Krankheit gefunden, über Symptome und Ursachen, aber auch über den Sanlitun-Konzern.«
»Hatten Sie Ihren eigenen Computer dabei?«
»Nein. Ich habe â¦Â«, Paul traute sich kaum, den Satz zu beenden. Wie hatte er so naiv sein können? Wie hatte er vergessen können, wo er sich befand? In der ersten Nacht hatte er sogar noch den Rechner des stellvertretenden Managers benutzt. Der musste am nächsten Morgen nicht lange suchen, um zu erfahren, was sein Gast in der Nacht getrieben hatte. Von ihm zu Yin-Yin war es nur ein kleiner Schritt. Er war leichtfertig und unachtsam gewesen, Yin-Yin zahlte nun den Preis für seine Fahrlässigkeit.
Chen fluchte leise vor sich hin.
»Glauben Sie, Yin-Yin ist verhaftet worden?«, fragte Paul.
»Davon gehe ich aus.«
»Aber warum? Was kann man ihr vorwerfen?«
»Die Liste kann lang werden. Anstiftung zur Unruhe. Gefährdung der Staatssicherheit. Behinderung von Beamten. Verleumdung. Oder, sehr häufig in solchen Fällen: der Besitz von Staatsgeheimnissen. Allein darauf stehen drei Jahre Gefängnis.«
Paul sank auf einen Stuhl und kippte dabei Teekanne und Tasse um. »Das ist lächerlich. Nichts davon stimmt.«
»Herr Leibovitz, seien Sie nicht so naiv«, antwortete der Anwalt verärgert. »Die Polizei braucht gar keinen Grund, um sie in administrative Haft zu nehmen. Das Laojiao-System erlaubt es, jeden Bürger dieses Landes bis zu vier Jahren einzusperren, ohne dass Richter ein Mitspracherecht hätten oder ein Anwalt helfen
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