Drachensturm
Drachen zu rufen hatte einen entscheidenden Nachteil – auch die Verschwörer würden sie hören. Aber darauf musste sie es ankommen lassen. Sie schlich zu den Stufen, und ihr Stab kratzte über den Stein. Sie blieb stehen.
» Hast du das gehört?«, fragte einer der beiden Spanier aus der Kammer.
» Nein, was denn?«
» Dieses Geräusch.«
» Sicher nur eine Maus. Diese Indios sind doch so eingeschüchtert, dass sie sich niemals ohne unsere Erlaubnis aus ihren Kammern wagen. In diesem Land sind die Mäuse wohl tapferer als die Männer.«
Die beiden Spanier lachten über die Bemerkung, und Mila tastete sich vorsichtig weiter voran. Die Treppe war lang, und sie endete an einem Hindernis, einer hölzernen Klappe. Eine Falltür! Das war also das laute Knarren gewesen, das sie vorhin gehört hatte. Wo war der Riegel? Sie klemmte sich den Stab unter den nutzlosen linken Arm und tastete das Holz mit der Rechten ab. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich begriff, dass es offenbar gar keinen Riegel gab. Mila stemmte sich mit der Schulter vorsichtig gegen die Falltür, und sehr, sehr langsam drückte sie sie auf. Draußen waren leise Stimmen. Sie verharrte, dann wurde ihr klar, dass sie wohl nicht vom Dach, sondern aus einer nahen Gasse kamen. Männer marschierten dort. Es war keine Frage, wohin sie unterwegs waren. Es war schon fast zu spät. Jetzt musste es schnell gehen. Sollten die Wachen sie eben hören! Mila stieß die Klappe weiter auf, schlüpfte hindurch, wobei ihr der eigene Stab sehr im Weg war, und ließ sie zufallen. Dann stellte sie sich darauf. Sie trug nur die leichte Baumwollrüstung, die ihr Don Mancebo geschenkt hatte, und wäre zum ersten Mal froh gewesen, wenn sie ihre schwere Rüstung getragen hätte. Lange würde sie die Männer nicht aufhalten können. Doch das war ihr jetzt gleich. Sie legte die Rechte als halben Trichter an den Mund, wandte sich in die Richtung, in der sie Norden vermutete, und rief: » Nabu! Marduk! Gefahr! Gefahr!«
Das Geröll gab unter Kemaq nach, er rutschte, und der Kienspan glitt ihm aus dem Mund. Er fiel zwischen einige Gesteinsbrocken, flackerte noch einmal kurz auf und erlosch. Sofort senkte sich tiefste Dunkelheit über ihn. Kemaq unterdrückte einen Fluch und starrte in die Finsternis. Dort – dort glomm noch ein Rest Glut. Er brauchte sie, denn er trug zwar noch zwei Kienspäne am Gürtel, aber doch kein Feuer! Er rutschte hinab, versuchte, den Span zu fassen zu bekommen. Der Schutthaufen bewegte sich wieder, sein Arm wurde eingeklemmt, Sand rutschte über den Span und erstickte die Glut. Jetzt war das Licht endgültig verloren.
Jenseits des Geröllhaufens hörte er Stimmen durch den Staub dringen. Offenbar nahmen sie die Arbeit wieder auf. Auch wenn die Marachuna sich Zeit ließen, irgendwann würde selbst der einfältigste Yunga merken, dass sie den Durchbruch geschafft hatten, vielleicht sogar, dass jemand fehlte. Sie würden ihn verfolgen, und Krieger mit Fackeln waren in dieser Finsternis auf jeden Fall schneller als ein Läufer ohne. Aber es half ja nichts. Er hatte jetzt mehr Platz, tastete sich auf allen vieren weiter voran und erreichte schließlich festen Boden. Das Geröll lag hinter ihm, aber er war wie blind. Er streckte die Hände aus und tastete sich voran. Am Anfang war er besonders vorsichtig, denn es lagen noch viele Steine im Stollen, und mehr als einmal stolperte er. Aber das hörte irgendwann auf. Er hielt die Hände nach oben, denn seine größte Sorge war, dass er sich irgendwo den Schädel einrannte. Es ging nur langsam, selbst die alte Payakmama hätte mit ihm Schritt halten können, aber immerhin kam er voran. Bald darauf teilte sich der Gang. Davon hatte ihm keiner etwas gesagt! Vermutlich gab es Zeichen, die den Priestern den Weg wiesen, wenn sie mit ihren Fackeln hier durchkamen – aber er hatte eben keine Fackeln. Er blieb stehen. Er war sich nicht sicher, aber der schwache Luftzug schien ihm doch aus dem rechten der beiden Gänge zu kommen, ebenso wie der feuchte und modrige Geruch. Und auch davon hatte niemand etwas gesagt.
Mila lauschte, aber die Drachen antworteten nicht. Sie rief noch einmal: » Nabu! Marduk! Zu Hilfe, Gefahr!«
Die Männer in der Gasse hatten sie jedoch sehr wohl gehört. » Dort oben, auf dem Dach. Die Hexe. Fangt sie!«, rief Don Hernando. Etwas zischte dicht an Mila vorbei. Sie spürte den Luftzug auf der Wange – ein Armbrustbolzen!
» Fangen, habe ich gesagt!«, schrie Pizarro. » Ich will sie
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