Drachensturm
einem Seil vielleicht? Er tastete die Decke ab und die Wand, aber er fand nichts. Dann streckte er einen Fuß hinaus in das kalte Wasser. Seine Zehen stießen auf einen Widerstand. Trittsteine! Wie hielten die aber der Strömung stand? Würden sie sein Gewicht tragen? Oder gerade dann wegbrechen, wenn er versuchte, darüber an das unsichtbare Ufer zu gelangen?
Er wagte den Schritt in die Dunkelheit. Der Stein rührte sich nicht. Kemaq betastete ihn. Er schien fest im Felsen verwachsen, und als er sich aufrichtete, stieß er mit dem Kopf an eine Steinsäule, die von der Decke herabhing. Das also war das Geheimnis. Das Steinvolk hatte eine vom Fels geformte Säule zerschlagen. Gab es eine zweite? Er streckte das Bein aus. Aber da war nur Wasser, nichts als eiskaltes Wasser. Er dachte nach. Die Priester kamen sonst später, der Bach führte dann weniger Wasser. Also würde der Stein jetzt vielleicht unter Wasser sein. Tatsächlich – sein Fuß spürte einen Widerstand unter Wasser. Einen Stein. Er wagte den Schritt. Dann riss die Strömung seinen Fuß vom Stein, und er stürzte ins eiskalte Wasser.
» Wo ist Balian?«, rief der Tressler, als Mila landete. » Ich sehe Behemoth – doch wo ist mein Neffe Balian? Was hat diese ganze Aufregung zu bedeuten?«
» Der Hochmeister und Marduk sind tot«, rief Mila.
» Balian hat uns verraten«, knurrte Nabu.
» Verraten? Mein Neffe?«, fragte der Tressler heiser.
» Deine beiden Neffen, Tassilo!«, zischte Nabu. » Sie haben sich mit Pizarro verschworen und Marduk und Maximilian getötet.«
Die Ritter des Drachenordens nahmen die Nachricht mit Bestürzung auf.
» Dann ist wahr, was Nergal eben gesagt hat?«, fragte Marschall di Collalto. » Es gab einen Angriff?«
Mila glitt von Nabus Rücken und nahm Don Mancebos Hand, die er ihr anbot, dankbar an. Als sie den Boden erreichte, erloschen die Flammen vor ihrem Inneren Auge, und die Finsternis ihrer Blindheit kehrte zurück.
» Aber so sagt doch, Comtesse, was ist geschehen?«, drängte der Ordensmarschall.
» Augenblick, Lorenzo, wir wollen doch die Ordnung wahren«, mischte sich der Tressler ein, und seine Stimme klang brüchig. » Eine Versammlung, wir müssen eine Versammlung einberufen, am besten noch heute!«
Keiner der Ritter sagte etwas zu diesem befremdlichen Vorschlag, aber Nabu knurrte und erklärte düster: » Ihr Menschen könnt tun und lassen, was ihr wollt, aber wir Drachen werden uns dort oben auf dem Hügel treffen und entscheiden, was geschehen soll.« Dann stieß er sich ab und flog schwerfällig davon.
» Er ist verwundet«, stellte Don Mancebo fest. Dann seufzte er: » Aber es scheint, als hättet Ihr noch weit schlimmere Nachrichten, Ritterschwester.«
Mila nickte.
Der Tressler meldete sich wieder mit unsteter Stimme: » Ihr mögt Euren Bericht geben, Comtesse, doch werden wir sicher nichts entscheiden, bevor auch die Ritter aus Chan Chan hier sind, wenn sie denn überhaupt kommen, was ich, da mag Nergal sagen, was er will, doch bezweifle.«
Der Marschall rief: » Was redet Ihr da, Tassilo? Unser Hochmeister ist tot, der große Marduk ebenfalls – wir müssen erfahren, was geschehen ist, jetzt gleich!«
Auch Mila wusste, dass die Zeit drängte, denn wenn Francisco Pizarro in Caxamalca erst einmal Wind davon bekam, was sie zu berichten hatte, würde es wohl noch gefährlicher für sie werden. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er nicht in die Pläne seines Bruders eingeweiht war. Balian hatte Depeschen hin und her getragen, und Mila war sich inzwischen sicher, dass die beiden Pizarros und die Priester so auch ihre Verschwörung gegen den Hochmeister geplant hatten. Ein berittener Bote aus Tanyamarka, und daran klammerte sie sich, würde jedoch Tage brauchen, bis er hier war.
Plötzlich fragte sie sich, ob der Tressler ebenfalls in die Verschwörung verwickelt war. Wollte er vielleicht deshalb Zeit gewinnen? Oder konnte er nur einfach nicht glauben, dass seine Neffen Verräter waren?
Die Ritter bestürmten Mila von allen Seiten mit Fragen, und der Marschall musste sie zur Ordnung rufen. Irgendjemand reichte ihr einen Krug mit klarem Wasser, den sie sehr gerne annahm. Sie bemerkte erst jetzt, wie durstig sie war. Dann berichtete sie. Sie suchte nach den richtigen Worten. Wie sehr hätte sie sich ihren Großonkel jetzt zu ihrer Unterstützung gewünscht, aber der Hochmeister würde ihr nie wieder zur Seite stehen, und das war etwas, was sie sich einfach nicht vorstellen konnte. Auch Nabu
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