Drachensturm
lag am Ufer und ließ sich das kalte Wasser des Flusses über die geschundenen Knochen fließen. Nachdem er eine Weile wie betäubt auf die Leichen der Chaski gestarrt hatte, war er schließlich weitergelaufen, bis er die verbrannten Ruinen des Botenhauses nicht mehr roch. Dann erst hatte er sich zum Fluss begeben, sich den Schweiß von der Haut gewaschen und geruht. Das Wasser, das von den schneebedeckten Gipfeln der hohen Berge herabkam, war eiskalt. Er hielt sich an den Schilfhalmen fest. Nur noch ein Weilchen, dachte er bei sich, zum wiederholten Male. Er wusste, er musste sich beeilen, aber er konnte sich einfach nicht überwinden, aufzustehen. Er rechnete sich vor, dass er es immer noch schaffen konnte. Eine halbe Stunde vielleicht noch bis zur Stadt, dort musste er nur den Curaca oder einen der Priester finden, seine Botschaft überbringen und warten. Und gleich … gleich würde er aus dem Wasser steigen und den letzten Teil der Strecke in Angriff nehmen. Er schloss die Augen.
» Du bist ein Chaski, oder?«, fragte eine Frauenstimme vom Ufer.
Vor Schreck ließ Kemaq das Schilf los, fuhr herum, ging unter, schluckte Wasser und kam hustend wieder an die Oberfläche.
» Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte die Frau. Sie war jung, jünger als Kemaq, und trug ein knielanges Gewand mit einem kunstvollen grün-weißen Muster. In der Hand hielt sie einen Weidenkorb. Kemaq hustete wieder und fragte: » Woher weißt du das?«
Sie deutete auf die Stelle am Ufer, wo er das Muschelhorn abgelegt hatte. Ihm fiel auf, dass sie ungewöhnlich groß und von recht heller Hautfarbe war. » Ich bin Kemaq, ein Läufer aus Tikalaq«, stellte er sich vor und stand auf. Sein Knie meldete sich mit bohrendem Schmerz. Er spürte seine Muskeln im linken Bein zucken. Hoffentlich würde daraus kein Krampf werden.
» Ich bin Pitumi. So bist du auch von den Bergen bis hierher gelaufen?«, fragte die junge Frau.
Kemaq nickte, dann stutzte er. » Wieso auch?«, fragte er plump und kletterte langsam und vorsichtig ans Ufer. Hatte der Chimú ihn etwa überholt?
» Vor kurzer Zeit kam ein anderer Mann von den Bergen, ein Yunga, kein Marachuna wie du. Er wollte in die Stadt, aber er konnte nicht mehr laufen.«
Kemaq erinnerte sich plötzlich daran, dass ein anderer Läufer vor ihm aufgebrochen war, einer, der ebenfalls nicht über sein Ziel hatte sprechen wollen, als ihn die wartenden Chaski danach gefragt hatten. Der Hohepriester hatte also wenigstens drei Männer geschickt und vermutlich alle mit ähnlichen Drohungen angetrieben. » Hat er sein Ziel erreicht?«, fragte er.
» Nein, ich sagte doch, er konnte nicht mehr laufen. Er liegt nicht weit von hier am Ufer. Er bat mich, nach anderen Chaski Ausschau zu halten. So habe ich dich gefunden.«
» Kannst du mich zu ihm bringen?«, fragte Kemaq.
Er musste sich bei ihr aufstützen, denn seine Beine wurden jetzt abwechselnd von Krämpfen geschüttelt. Einmal musste er sich hinsetzen und warten, bis sie vorüber waren, bevor er weitergehen konnte. Der Yunga – es war wirklich der, den Kemaq am frühen Morgen gesehen hatte – schlief unter einem schattenspendenden Busch. Er trug nur eine Sandale, und sein rechter Fuß war mit Schilf bandagiert. Pitumi weckte ihn vorsichtig. Kemaq ließ sich ins Gras fallen. » Was ist dir widerfahren, Freund?«, fragte er.
Der Yunga stöhnte und sagte: » Das Band meines Schuhs zerriss, und ich verlor ihn noch in den Bergen, bei den hundert Stufen. Dann trat ich auf einen scharfen Stein.«
Kemaq erinnerte sich an dieses Stück des Weges. Es war beinahe noch schlimmer als der Weg hinter dem Tunnel.
» Du bist weit gelaufen, Chaski«, sagte Kemaq anerkennend.
» Ich ahnte, dass der Hohepriester noch mehr Läufer schicken würde«, erwiderte der Yunga leise.
Kemaq nickte.
» Aber ich fürchte, es war vergeblich. Die Stadt wird bewacht. Frag diese Chachapoya, Chaski«, flüsterte der andere.
» Du gehörst zu den Wolkenmenschen?«, fragte Kemaq überrascht. Er hatte schon viele Geschichten von den zaubermächtigen Chachapoya gehört, aber zuvor noch nie mit einem gesprochen – jetzt waren es an einem Tag gleich zwei!
Die Frau bedachte ihn mit einem ernsten Lächeln. » Dies sollte nicht deine Frage sein, Läufer«, wies sie ihn sanft zurecht.
Kemaq starrte die junge Frau an. Was meinte sie? Endlich verstand er und rief: » Chan Chan wird bewacht? Ich meine, was ist überhaupt geschehen, Pitumi? Es heißt, die Götter wären von den Sternen
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