Drachensturm
euch streitig zu machen. Doch erwartet nicht, dass wir euch willkommen heißen oder bewirten. Solltet ihr diese Festung verlassen, werden wir euch angreifen und töten.«
Die Heilerin mischte die Kuka-Blätter mit etwas Kalk und Asche von Pflanzen, die sie zuvor unter eintönigem Singsang verbrannt hatte. Kemaq sah ihr zu. Der andere Läufer war eingeschlafen.
» Es wird dir helfen, den Schmerz deiner Wunden zu lindern, und die Heilung beschleunigen, Chaski«, sagte Pitumi, als sie das graugrüne Gemisch mit einem Mörser zerstampfte. » Außerdem wird es dir Kraft geben.«
Kemaq zuckte plötzlich zusammen: » Der Chimú! Er ist noch auf der Straße«, rief er, und da die Heilerin nicht nachfragte, sagte er: » Er hat mir in den Bergen mein Wasser gestohlen, und dabei bin ich gestürzt.«
» Tun Läufer so etwas?«, fragte Pitumi jetzt und prüfte die Festigkeit des Breis mit dem Finger. Sie schien seltsam gleichgültig.
» Nein, aber ich glaube, er war verzweifelt. Weil doch die Stadt in Flammen stand«, fügte Kemaq erklärend hinzu.
» In Chan Chan gibt es nicht viel, was brennen kann«, meinte die Heilerin. » Jenseits dieser Büsche kannst du die Stadt gut sehen. Die Flammen sind erloschen.«
» Aber wir können ihn dort nicht liegen lassen«, rief Kemaq. Und da ihm erst jetzt auffiel, wie unzusammenhängend er sich ausgedrückt hatte, sagte er: » Ich habe ihn kurz vor dem letzten Chaskiwasi überholt. Er konnte nur noch kriechen, und ich fürchte, er schafft es vielleicht nicht bis zum Fluss.«
Pitumi zuckte mit den Achseln. » Er hat dich bestohlen. Bei einem Lauf, bei dem es, wenn ich es recht verstehe, um dein Leben und das deines Bruders geht. Dein Mitleid erstaunt mich, Steinmann.«
» Er war verzweifelt. Und ich will ihn nicht richten, Wolkentochter«, entgegnete Kemaq.
Die Chachapoya lächelte flüchtig. » Iss das, Chaski. Vielleicht ist es der Wille der Götter, dass er dort draußen zugrunde geht. Vielleicht erlauben sie mir aber auch, nach ihm zu sehen, wenn dir so viel daran liegt. Doch erst, wenn du aufgebrochen bist.«
Kemaq starrte auf die zähflüssige graugrüne Masse. » Essen?«, fragte er.
» Du kannst es mit Wasser verdünnen oder gleich so essen, wie du willst, Chaski.«
Er probierte den Brei. Er schmeckte nicht so schlimm, wie er aussah. Er spürte plötzlich, wie hungrig er war.
» Nur die Hälfte, Chaski, nur die Hälfte«, mahnte die Heilerin und nahm ihm die kleine Tonschale aus den Händen. » Ich werde den Rest hinter jenem Baum dort verstecken. Für deinen Rückweg.«
Kemaq nickte. Er war lange nicht satt, aber er spürte eine Hitzewelle, die durch seinen Körper lief. Sie schien jeden einzelnen Muskel zu erfassen. Er konnte förmlich fühlen, wie die Kraft in seine Beine zurückkehrte.
» Kannst du schwimmen?«, fragte Pitumi jetzt.
» Schwimmen?«, fragte Kemaq.
» Nun, wenn du den Fluss …« Sie verstummte.
In der Luft war ein Geräusch, ein schweres Sausen wie von gewaltigen Schwingen. Es kam rasch näher. Die Heilerin zog Kemaq hastig unter einen Baum und legte warnend einen Finger auf den Mund.
Und dann sah Kemaq den Gott: Er tauchte über den Bäumen auf, schwenkte kurz nach links und dann wieder nach rechts, ließ ein markerschütterndes Brüllen hören und flog tiefer. Kemaq starrte den Gott mit offenem Mund an. Er war riesig. Noch nie hatte er etwas Vergleichbares gesehen. Die gewaltigen Flügel waren ledern, fast wie die einer Fledermaus, doch es hätte die Flügel von zehntausend Fledermäusen gebraucht, um solche Schwingen zu machen, und dieses Wesen flog elegant, beinahe wie ein Kondor, und gar nicht wie eine Fledermaus. Sein Körper erinnerte Kemaq an eine riesenhafte Echse, schuppig, schwarz, mit wenigen grauen Einsprengseln. Der Gott – und Kemaq bezweifelte nicht einen Augenblick, dass es ein Gott war – brüllte noch einmal, legte dann die Flügel an und stürzte sich auf etwas, das Kemaq nicht sehen konnte. Ein jämmerliches Blöken ertönte. » Er hat die Lamas entdeckt«, erklärte Pitumi leise. Der Gott war gelandet, und durch die Büsche, in denen sie sich versteckt hatten, konnte Kemaq ihn nicht mehr sehen. Seine Neugier trieb ihn dazu, aufzustehen, aber Pitumi zog ihn wieder nach unten. » Willst du herausfinden, ob dieser Gott lieber Menschen als Lamas vertilgt?«, zischte sie ihn an und warf einen besorgten Blick auf den anderen Läufer, der wenige Schritte entfernt unter dem schütteren Blätterdach eines Baumes lag und schlief.
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