Drachensturm
er weiter dem Kanal folgen sollte, vielleicht bis zu dem Platz, an dem laut Pitumi der Mondtempel lag. Aber er war ein Läufer, kein Schwimmer, und falls er in Gefahr geriet, wollte er doch lieber der Schnelligkeit seiner Beine als seinen Fähigkeiten im Schwimmen vertrauen. Er entdeckte eine alte, halb verfallene Treppe, vermutlich in früheren Zeiten zur Wartung des Gatters angelegt. Sie schien lange nicht benutzt worden zu sein, und Gräser hatten sich durch die Fugen der Lehmziegel gedrückt. Vorsichtig kletterte Kemaq die Stufen hinauf, spähte über den Rand der Böschung, und erst, als er niemanden sah, huschte er hinüber zur Wand des nächsten Hauses. Er blickte zurück. Es waren keine Wachen auf den Mauern. Auch sonst schien es still. Dann bemerkte er eine leichte Erschütterung des Bodens, doch gerade, als er sich fragte, was das sein mochte, hatte es schon wieder aufgehört. Sicher nur ein leichtes Erdbeben, dachte Kemaq, denn davon hatte er schon einige erlebt. Er huschte weiter zum nächsten, dann zum übernächsten Haus. Er spähte um die Ecke auf den Platz und prallte erschrocken zurück. Ein Gott! Auf dem Platz war ein fliegender Gott. Sein Herz raste, und große Angst befiel ihn. Er zwang sich zur Ruhe, und seine Neugier siegte über die Furcht. Er spähte um die Ecke und sah, wie der Ankay Yaya seinen Kopf zum Kanal senkte und mit langen Schlucken trank. Erst konnte er seinen Blick nicht lösen, aber dann nahm er im Augenwinkel eine Bewegung wahr.
Da war jemand, an einem der Fenster im obersten Stockwerk eines Palastes. Es war eine junge Frau – oder eine Göttin? Das Fenster lag im Schatten, aber dennoch sah Kemaq, dass ihre Haut hell war, heller noch als die der Chachapoya, und dann war da ihr Haar, es war golden wie die Sonne. Es musste eine Göttin sein, auf den fliegenden Göttern herabgestiegen von den Sternen. Sie erwiderte seinen Blick. Kemaq erstarrte. Er hätte weglaufen sollen, aber er konnte nicht. Sie musste ihn sehen, gar keine Frage, aber sie unternahm nichts. Dann legte sie sich ein weißes Band über die Stirn. Die Borla, durchfuhr es Kemaq. Jedes Kind wusste, dass der Sapay Inka seine Augen hinter einem Band verbarg, damit die Menschen nicht erblindeten, wenn er sie ansah. Diese Göttin musste eine Herrscherin unter Ihresgleichen sein! Jetzt drehte sie sich um und verschwand vom Fenster. Der Ankay Yaya trank nicht mehr, und Kemaq hörte, dass die Fremde etwas rief. Er zog sich hastig in den Schatten zurück. Er verstand nicht, was vorgefallen war, aber sie hatte ihn offensichtlich nicht verraten, denn es blieb still. Mit zitternden Knien schob sich Kemaq die Wand entlang. Als aber die Zeit verrann, ohne dass Männer oder Götter nach ihm suchten, beruhigte er sich wieder und versuchte zu verstehen, was er gesehen hatte: Die Welt war voller Götter, das wusste er, aber offenbar hatten diese beschlossen, sich nicht mehr nur den Priestern zu offenbaren. Hatte Pitumi also Recht, und Pachakuti, die Zeitenwende, stand bevor? Und waren diese Wesen von den Sternen gekommen, um dem Reich des Sapay Inka ein Ende zu bereiten? Er wusste die Antwort nicht. Kemaq spähte um die nächste Ecke. Am anderen Ende des Platzes ragte der Mondtempel empor. Es war ein weiter Weg bis dahin, denn er musste den Platz meiden, versuchen, den Augen des Ankay Yaya zu entgehen. Aber er würde es nie schaffen, wenn er sich nicht aufmachte. Kemaq schlich durch die Schatten davon.
Die Festung verwirrte ihn. Die Mauern an den Gassen waren hoch, viel zu hoch für gewöhnliche Hütten. Das Steinvolk baute so nicht. Waren das überhaupt Wohnhäuser? Bei der nächsten Hausecke sah er, dass drei weitere der fliegenden Götter auf dem Platz in der Nachmittagssonne lagen. Sie bemerkten ihn nicht, aber es kostete ihn große Überwindung, zum nächsten Haus zu huschen. Er hielt sich möglichst weit vom Platz entfernt. Fast war er an der östlichen Außenmauer dieser Festung angelangt. Er huschte voran, bis er plötzlich Schritte hörte. Er rannte in den nächsten dunklen Hauseingang und wartete. Jemand war auf der Mauer. Als er das Gefühl hatte, dass die Schritte vorüber waren, wagte er einen Blick. Er sah eine lange Lanze und einen Helm, der im Sonnenlicht schwach schimmerte. Es sah aus, als sei er aus dunklem Silber gefertigt. Auch die Spitze der Lanze, die eigentlich keine Lanze, sondern eher eine Art Mittelding aus Speer und Axt zu sein schien, schimmerte im gleichen Ton. Und wer fertigte Waffen aus Silber – wenn
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