Drachentau
ihr und sah ihr ins Gesicht. »Wo ist Jakob?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Emilia ... sag doch was ... sind wir ...?«
»Ja«, antwortete Emilia leise und schaute auf ihre Hände, »ihr seid ... zu spät.«
»Nein!« Rosa schluchzte. »Bitte nicht! Das kann doch nicht sein.«
Emilia schwieg.
»Hat Tumaros ... hat er ihn ... gefressen?« Rosa hielt sich eine Hand vor den Mund.
Emilia schüttelte den Kopf und zeigte stumm zu Jakobs Schlafstube.
»Ist er in seinem Zimmer?«, fragte Bodo.
Rosa wollte hinübereilen. Abrupt blieb sie stehen und sank vom Schmerz überwältigt auf die Knie. Bodo fing sie auf und brachte sie hinüber.
Drachengestank schlug ihnen entgegen, süßlich verwesend, vermischt mit versengtem Bärenfell. Rosa schnitt es den Atem ab. Bodo hielt die Kerze in den Raum. Leise flackerte der Schein an den Wänden. Sie sahen Jakob auf seinem Bett liegen, bleich und regungslos, die Hände über seinen Bauch gefaltet. Rosa versagten die Knie, ohnmächtig brach sie zusammen.
Bodo fing sie auf und ließ sie zu Boden gleiten. Fassungslos starrte er auf den toten Jakob. Waren sie wirklich zu spät? Er beugte sich zu Rosa hinunter und klopfte ihr sanft auf die Wange. »Rosa, Liebes, komm zu dir!«
Sie öffnete die Augen. »Ist es wahr, Bodo? Ist er wirklich tot?«
Bodo schwieg.
Rosa richtete sich wieder auf und trat an das Bett. Er trug seinen Anzug. Die Brandwunden an den Händen und im Gesicht ließen die schlimmen Verletzungen am Körper ahnen. Rosa kannte diese Wunden. Sie berührte sanft Jakobs Gesicht und ließ ihren Kopf auf seine Brust sinken. Ihr Herz brannte vor Schmerz. »Großvater ... ich bin ... zurück ... ich bin ... wieder zu Hause«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Ella, Emil und Letizia standen im Türrahmen und beobachteten die Szene.
Endlich traute sich Letizia hinein und trat an Rosas Seite. »Was ist mit ihm, Mama?«
Rosa schluchzte. »Er hat ... gegen Tumaros gekämpft ... er ist ... mein Großvater.«
Letizia betrachtete den leblosen Körper. »Wusste er denn nicht, was Drachen tun?«
»Doch ... das wusste er.«
»Warum hat er dann gekämpft?«
Rosa verbarg ihr Gesicht auf Jakobs Brust. Tränen schüttelten ihren verkrampften Körper. Letizia sah hilflos zu Bodo und fasste seine Hand.
»Komm, wir lassen Mama allein.« Sanft zog er sie hinaus.
»Kannst du erzählen, was passiert ist?«, wandte er sich wieder Emilia zu. Sie schüttelte nur den Kopf und Bodo nickte verstehend.
»Es tut mir leid, Emilia. Ich habe gedacht, ihr hättet es endlich geschafft«, flüsterte Bodo.
Emilia wandte sich ab und blickte auf die Kinder. »Wenigstens ihr seid dem Drachen entkommen.«
»Vorläufig«, antwortete Bodo.
»Ich habe Durst«, wagte Emil leise zu sagen.
Emilia lächelte gequält und stand auf. »Komm, ich gebe dir zu trinken.«
Sie ging zur Küche und jeder bekam einen großen Becher Milch. Bodo half Emilia, ein Abendessen zu bereiten. Dann ging er zu Rosa, löste sie sanft von Jakobs Leichnam und brachte sie an den Tisch.
Emilia holte ihren Mantel. »Ich gehe nach Hause. Morgen komme ich zurück und bringe euch Lebensmittel. Bleibt möglichst in der Hütte und lasst euch auf keinen Fall im Dorf blicken. Morgen können wir sehen, wie es weitergeht.«
»Emilia, es ist mitten in der Nacht. Bleib doch hier. Bitte«, antwortete Rosa.
»Nein ... ich kann nicht hierbleiben ... gute Nacht.« Emilia verließ die Hütte und leise verstehend blickten Bodo und Rosa ihr nach. Sie alle hatten Jakob geliebt, aber wahrscheinlich keiner so sehr wie Emilia.
Es war schon Mittag, als Rosa am nächsten Tag mit heftigen Schmerzen in den Beinen erwachte. Die Kinder schliefen noch fest. Bodo war nicht zu sehen. Mühsam setzte Rosa sich auf und sah sich um. Alles sah noch genauso aus wie damals, als sie die Hütte verlassen hatte. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Ihr Blick fiel auf Jakobs Schlafzimmertür, hinter der er noch immer in seinem Bett lag. Es roch nach ihm und Rosa stellte sich vor, dass er gleich aus seiner Stube käme und sich an den Tisch setzte. Aber er kam nicht. Dafür blieb der Schmerz und mit dem Ticken der Uhr hämmerte sich ein gnadenloses zu-spät – zu-spät - zu-spät in ihr Herz.
Leise stand sie auf und humpelte nach draußen. Die Sonne schien angenehm warm und Bienen schwirrten emsig durchs Blumenbeet. Die Brombeerhecke am Mittelweg war mit prallen, violetten Früchten reichlich gefüllt. Rosa ging auf ihren Stock gestützt hinter die
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