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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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Schale trinken«, sagte mein Meister.
    Rilla verbeugte sich, rollte eine runde goldene Matte aus und schob sie mir hin. Es war eine aufwendig verzierte Drachenwindrose mit den vierundzwanzig Kreisen der energetischen Wechselwirkungen. Als Anwärter hatte man mich im ersten und zweiten Kreis des Kompasses unterrichtet, hatte mir die wichtigsten Punkte und die Tierzeichen der Drachen eingebläut, doch nur die Lehrlinge lernten, auch die anderen Kreise zu gebrauchen. Ich beugte mich vor, strich über die Ratte am Scheitelpunkt des zweiten Kreises und sandte erneut ein Stoßgebet an den Rattendrachen: Erwähle mich! Um meine Bitte zu unterstreichen, fuhr ich mit den Fingern die zwölf Tiere in der Reihenfolge ihres Aufsteigens ab. Ratte, Büffel, Tiger, Hase, Drache …
    Die Ratte dreht sich, der Drache lernt, das Reich brennt.
    Die schrillen Worte bohrten sich in meinen Geist und versengten mir die Eingeweide. Ich keuchte und zog die Hand ruckartig zurück, als Rilla eine rote Trinkschale in die Mitte der Matte stellte. Sie sah mich kurz und mit vor Sorge geweiteten Augen an.
    »Was machst du da, Eon?«, fuhr mein Meister mich an.
    »Nichts, Meister.« Ich senkte entschuldigend den Kopf und drückte die Hand auf meinen Bauch. Diesen Vers musste ich in einer der Drachenschriften gelesen haben. Sie waren voller seltsamer Sprüche und schlechter Gedichte.
    »Dann sitz still.«
    »Ja, Meister.« Ich atmete vorsichtig ein. Von dem bohrenden Schmerz war nur noch ein schwacher Widerhall zu spüren. Nie hatte ich so starke Krämpfe gehabt – vielleicht – würde der Tee der Geistmacher in sie lindern. Rilla nahm ein kleines Becken mit heißen Kohlen vom Tablett, stellte es auf den Tisch und setzte einen Topf dampfenden Wassers darauf.
    »Ich werde den Tee zubereiten«, sagte mein Meister.
    Mir war so unbehaglich, dass mir ein Frösteln über den Rücken lief. Rilla nickte, stellte ihm eine Schüssel zum Mischen hin und legte einen kleinen Bambusstab zum Umrühren daneben. Er wies zur Tür. »Du kannst gehen.«
    Sie verbeugte sich und verließ das Zimmer.
    Mein Meister wartete, bis sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, griff dann nach dem Beutel und öffnete die Lederschnur, mit der er zugebunden war.
    »Du darfst immer nur eine Prise pro Schale nehmen«, sagte er und ließ ein graugrünes Pulver in seine Schüssel rieseln. »Und das Wasser darf nicht kochen, sonst zerstörst du die Kraft der Kräuter.« Er nahm den Topf vom Kohlenbecken, goss ein wenig Wasser in die Schüssel, rührte ein paarmal mit dem Bambusstab um, und die Mischung war zubereitet.
    »Gib mir deine Schale.«
    Ich reichte sie ihm. Geschickt füllte er die trübe Flüssigkeit um und gab mir meine Schale zurück.
    »Die Geistmacherin hat gesagt, man trinkt es am besten in einem Zug.«
    Ich betrachtete die dunkle Oberfläche und sah mein Spiegelbild darin klarere Konturen gewinnen.
    »Na los.«
    Der Tee roch nach feuchten Blättern und Verwesung. Ich kippte das bittere, ölige Gebräu herunter, schloss die Augen und rang das Bedürfnis nieder, mich zu übergeben.
    Mein Meister nickte. »Gut.«
    Ich stellte die leere Schale auf die goldene Matte zurück. Mein Meister schnürte den Beutel wieder zu und reichte ihn mir über den Schreibtisch.
    »Lass ihn niemanden sehen.«
    Ich schob den Beutel zu Brot und Käse in meine Tasche.
    »Ich habe auch vorbereitet, wie du dem Drachenrat gegenüber auftreten wirst«, sagte mein Meister. »Weißt du, was das ist?« Er tippte auf den versiegelten Deckel des schwarzen Keramikgefäßes.
    »Nein, Meister.«
    Er drehte es langsam herum, bis ich die weißen Schriftzeichen meines Namens sah.
    »Ein Behältnis der Wahrheit. In den Akten des Rats wirst du von nun an als Mondschatten geführt«, sagte er.
    Ich starrte ihn an. Irgendwie war es meinem Meister gelungen, mich als Mondeunuch eintragen zu lassen, als einen Jungen also, der noch als Kind um des Aufstiegs und der Chancen seiner Familie willen kastriert worden war. Solche Jungen waren bar aller Männlichkeit und ihr Körper bot ihr ganzes Leben über ein kindliches Erscheinungsbild. Ich beug te mich zu dem Eunuchengefäß vor. Ich hatte so etwas noch nie gesehen, doch ich wusste, was darin versiegelt war: der mumifizierte Beweis für die Operation. Ohne ihn konnte ein Schattenmann keine Anstellung finden und hatte keinerlei Aussicht auf Beförderung. Und nur wenn es ihm nach seinem Tod ins Grab beigegeben wurde, konnte er in der nächsten Welt in seiner Ganzheit

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