Drachentochter
Götter dafür sorgen, dass niemand etwas anderes sieht.
Doch es ging nicht nur um die Erscheinung. Es war auch die Art, sich zu bewegen, die Haltung und noch etwas anderes, das schwer zu benennen war. Nachdem mein Meister mich vor vier Jahren gekauft hatte, verbrachten wir die lange Rückreise in die Stadt damit, mich in Eon zu verwandeln. Ich beobachtete die Jungen auf den Straßen und in den Herbergen – wie entschlossen sie sich bewegten und wie viel Raum sie für sich beanspruchten; wie jedes Wassertragen und Holzhacken ihnen zu einem Wettkampf geriet. Ich begann, mich wie sie zu verhalten, und spürte, wie die Jahre, in denen mein weiblicher Körper in seiner Bewegungsfreiheit gebremst und eingeschränkt worden war, von mir abfielen. Es war ein berauschendes Gefühl. Mein Meister unterrichtete mich in der männlichen Welt der Zahlen und Schriftzeichen, und ich lern te, mit gespreizten Beinen, erhobenem Kinn und dreistem Blick dazusitzen.
Vor allem aber lernte ich es, nicht angeschaut zu werden.
Dolana in der Saline hatte mir als Erste vom Blick der Männer erzählt, von jenem Blick flüchtiger Inbesitznahme, mit dem manche Männer den weiblichen Körper bedrängten, von den Gefahren und Möglichkeiten dieses Blicks. »Man kann ihn zum Überleben nutzen«, hatte Dolana leise gesagt und mir gezeigt, welche Macht darin lag, das Begehren eines Mannes zu spiegeln. Und obwohl ich erst zwölf Jahre alt war, zeigte sich dieses Wissen bereits an der Art, wie ich Kopf, Hände und Schultern bewegte. Doch Dolana hatte ihre Geheimnisse einem Mädchen anvertraut. Und ich musste ein Junge werden.
Als ich die Saline verließ, durfte ich nicht länger darauf achten, ob ein Mann mir den Kopf zuwandte, und nicht mehr aufsehen, um seinem Blick flüchtig zu begegnen. Ich musste aufhören, die Augen in geheuchelter Schamhaftigkeit zu senken, wenn ich sein Interesse bemerkte. Es fiel mir nicht leicht, mir all das abzugewöhnen, doch ich beschäftigte mich unermüdlich damit und schaffte es, mir Aussehen und Gebaren eines Jungen zu geben.
Und nun musste dieser Junge ein Lord werden.
Ich ließ mein Haar wieder los, wandte mich vom Spiegel ab und setzte behutsam den ersten Schritt ins Becken. Das Wasser schloss sich um meine Füße, meine Schienbeine, mei ne Oberschenkel und dann ließ ich mich ganz ins warme Becken gleiten und stieß einen Seufzer der Entspannung aus. Es wür de mir schwerfallen, wie ein Lord aufzutreten, doch diesmal würden alle von mir erwarten, unwissend und unbeholfen zu sein. Ich würde tun, was ich schon früher getan hatte: Ich würde mir jemanden suchen, den ich beobachten und nachahmen konnte. Und mein Meister würde mir helfen.
Die Wärme erfüllte mich und meine Gedanken, linderte den Schmerz und nahm meinem Verstand die Schärfe. Ich setzte mich auf die niedrige, von Wasser bedeckte Sitzbank und lehnte den Kopf zurück, bis mein Nacken auf der Fliesenkante des Beckens lag. Der Raum befand sich in fast vollkommenem Gleichgewicht – keine schweren Möbel schirmten die Drachenenergie ab, die Form des Beckens verstärkte den kreisförmigen Fluss des Hua und der Spiegel ließ die verkürzte Wand länger wirken. Gewiss war ein Drachenauge bei der Einrichtung des Bads befragt worden.
Ich ließ die Hitze mich durchdringen und öffnete mein geistiges Auge. Rings um das Becken nahmen die Drachen schimmernd Gestalt an. Sie alle waren fast gleich groß und ihre Energie strömte ungehindert. Mochten sie in der Arena auch haushoch gewesen sein: Hier im Bad reichten sie bloß bis zur Hälfte der Decke. Nur der Spiegeldrache – mein Drache also – war wieder doppelt so groß wie die übrigen.
Ich stand auf, um ihn durch den Dampf hindurch zu sehen. Er zog mich mit seinen dunklen Augen an und sein Kopf war fragend zur Seite geneigt. Ich watete langsam durchs Wasser auf ihn zu, konnte ihn aber nicht deutlicher erkennen. Es war nicht Dampf, der meine Sicht trübte, sondern ein Dunst, der wie ein Schleier vor dem Drachen hing. Alle anderen Drachen dagegen vermochte ich klar zu erkennen.
Ein leises Klopfen in meinem Rücken und das Offnen der Tür rissen mich aus der Drachensicht. Ich drehte mich um und kauerte im Wasser nieder.
Rilla kam herein und trug gefaltete Badetücher über dem Arm.
»Was ist los?«, fragte sie und drückte mit dem Hintern die Tür zu.
»Du hast mich erschreckt.« Ich watete zu den Stufen. »Ich dachte, es wäre vielleicht jemand anderer.«
»Nein, Lady Dela hat den anderen Dienern
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