Drachenwächter - Die Prophezeiung
wuschen sie, schnitten ihre Haare und gaben ihr Kleidung. Alema verfolgte das Geschehen um sie herum mit wachen Augen. Was mit ihr getan wurde, schien immer neue Erinnerungen zu wecken. Sie lernte, sprach neue Worte. Mesala wich nicht von ihrer Seite.
Seld setzte sich mit Ark und Ker ab. Die drei suchten sich einen ruhigen Platz am Ufer des Sees und teilten einen Beutel Herbstwein.
»Es ist der letzte, den ich noch habe«, sagte Ark. »Aber einen besseren Tag als heute werden wir kaum erleben, um den Wein zu trinken.«
Der Wein erfrischte Seld, und er erzählte von dem, was er im Inneren der Drachenspitze erlebt hatte, von der Begegnung mit dem Obersten Drachen und wie er Alema gefunden hatte.
»Sie war all die Jahre bei den Drachen?«, fragte Ark. »Warum ist sie dann nicht zu uns zurückgekehrt?«
»Sie weiß noch nicht alles von ihrem früheren Leben. Ich glaube, langsam regen sich Erinnerungen, aber es wird noch dauern, bis sie wieder so leben kann wie früher. Ihr Geist war mit den Drachen verschmolzen.«
Ark blickte misstrauisch drein. »Sie haben Alema dazu gezwungen, bei ihnen zu bleiben. Wer weiß, was sie mit deinem Geist getan haben.«
»Alema wurde von ihnen gerettet.«
Ark wich Selds Blick aus. »Können wir dessen sicher sein?«
»Ja. Ich kann es in ihrem Geist sehen, Ark. Sie war tot.«
Ker unterbrach die beiden. »Haben die Drachen dir auch berichtet, was wir nun tun müssen? Sind wir hier sicher vor den Dämonen?«
Seld trank einen Schluck. »Nein. Es muss eine Prophezeiung erfüllt werden. Erst dann sind wir sicher.«
»Aber wir können sie nicht sofort erfüllen?«
Seld schüttelte den Kopf. »Wir werden auch nicht einfach herumsitzen – wir werden so leben wie unsere Vorfahren: gemeinsam mit den Drachen in diesem Berg. Lang wird es nicht dauern, dann wird die Zeit der Prophezeiung da sein ... früher als mir lieb ist.«
Niemand sprach ein Wort, als Seld die Menschen durch den dunklen, steinernen Gang in die erste Halle führte. Alle starrten hinauf, schienen zu fühlen, welche Geschichte diesem Raum innewohnte. Seld wies sie an, sich in der Mitte zu versammeln, dann erzählte er ihnen, was er von dem Obersten Drachen erfahren hatte, von der gemeinsamen Vergangenheit der Drachen und Menschen. »Ihr könnt euch in der Drachenspitze aufhalten, solange ihr wollt. Erforscht sie. Einige von euch vernehmen schon leise die Stimmen der Drachen im Geiste. Ihr werdet den Drachen näherkommen, und ihr werdet sehen, was ich gesehen habe.«
Auch Alema und Mesala waren dabei, und wie sie nebeneinander saßen, fühlte sich Seld von Gefühlen überwältigt. Er liebte diese beiden Frauen, diese Schwestern, die er im Zwielicht kaum unterscheiden konnte, obwohl sie so unterschiedlich waren. Seine Stimme, die gerade noch durch den Raum gehallt war, stockte. Er schluckte, dann hob er wieder an: »Ich weiß nicht, wie lange wir hier bleiben werden. Wir sollten uns darauf einstellen, dass es lange dauert. Vielleicht wagen es die Dämonen auch niemals, die Drachenspitze anzugreifen. Aber es kann auch sein, dass wir die letzten Menschen in dieser Welt sind und dass es unser Schicksal ist – mein Schicksal –, Drachen und Menschen wieder zusammenzuführen.« Er hielt kurz inne. »Und nun erforscht diesen Berg und seine Geschichte. Erfasst, was Drachen und Menschen verbindet.«
Seld wendete sich zum Gehen. Er hatte nur einige Schritte zurückgelegt, als Mesala neben ihm erschien. Schweigend schritten sie nebeneinander den Tunnel zurück, die Steintreppe hinunter und schließlich ins Freie.
»Was willst du?«, fragte Seld schließlich.
Sie packte ihn am Arm, und Seld versuchte mit einer ruckartigen Bewegung, ihren Griff abzuschütteln, doch sie krallte ihre Finger in seinen Unterarm. Selds Blick war voller Wut.
»Verändert es etwas zwischen uns, dass Alema noch lebt?«
Nun gelang es Seld, sich von ihrem Griff zu befreien. »Natürlich verändert es etwas. Es verändert alles!« Seine letzten Worte hatte er gebrüllt, dann wandte er sich ab und ging mit stampfenden Schritten Richtung Wald.
Mesala folgte ihm. »Was soll es ändern? Ich bin glücklich, dass meine Schwester noch lebt ... ich liebe dich!«
Seld blieb stehen. Er drehte langsam seinen Kopf, setzte an, etwas zu sagen, doch er schwieg und ging weiter.
Mesala blieb zurück. »Die Prophezeiung verbietet dir nicht, mich zu lieben«, sagte sie leise.
Nun wirbelte Seld herum und trat mit schnellen Schritten zu ihr. »Ich möchte niemanden
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