Drachenwächter - Die Prophezeiung
erfassen konnte – noch nicht.
Nachdem er scheinbar endlos durch die Dunkelheit nach unten getaumelt war, fand sich Seld in der ersten großen Halle wieder. Noch immer saßen Drachen in den Zellen und blickten ihn an. Das Echo des Grollens, das aus ihren Rachen drang, hallte von der Decke wider. In der Mitte des Raums wartete ein goldener Drache auf Seld, den er sofort wiedererkannte. Es war der Drache, der mit seinen Artgenossen die Koan-Berge verlassen hatte, der ihn an der Küste dieses fremden Landes erwartet hatte – der Wächter der Drachen.
» Du bist eins mit uns «, vernahm Seld.
»Ihr blickt tief in mich«, sagte er. »Woher wisst ihr so viel über mich?«
Der Drache bewegte sich zur Seite. » Wir sind zu deinem Geist geführt worden. « Seld ließ seinen Blick über die Zellen an der Wand schweifen. In jeder saß ein Drache, nur eine war leer ... nein, diese Zelle war nicht leer. Seld machte einige Schritte nach vorne. Es war ein Mensch, der in dieser hohen Nische knapp über dem Boden lag. Hatte sich jemand von der Kolonne in die Drachenspitze gewagt und schlief dort?
Als Seld bei der Zelle ankam und erkannte, wer dort lag, war es, als ersticke er.
Dort lag der Körper seiner Frau Alema.
Kapitel 20
Kurzer Friede
Mit jedem Schritt näher wurden Selds Zweifel kleiner. Es war Alema, die dort lag, keine Einbildung, es war nicht jemand anderes. Es war Alema.
Aber ruhte dort nur ihre tote Hülle? Nein – sie schlief. Ausgestreckt und reglos war sie, bis auf das gleichmäßige Heben und Senken ihres Brustkorbs. Alema war nackt, und ihre blasse Haut sah geschunden und zerkratzt aus. Langes, graues Haar umfloss ihren Oberkörper.
Vor ihr fiel Seld auf die Knie, besah ihr Gesicht. Falten durchzogen ihr Antlitz, und die Haut war rau, doch Seld erkannte ihre vertrauten Gesichtszüge. Er streckte die Hand aus, um die Schlafende zu berühren, über ihre Haut zu streichen, doch vorher zog er die Hand wieder zurück.
Wo war sie all die Jahre gewesen?
» Bei uns. Hier in der Drachenspitze. «
Seld erhob sich, wendete sich von seiner Frau ab und schwankte auf den Drachen zu. Seine Stimme bebte. »Wie kann sie bei euch gewesen sein? Sie ist getötet worden ... auf den Koan-Bergen.«
» Ihr Geist hatte ihren Körper verlassen, als wir sie fanden. Er war jedoch noch nicht in der Zeitlosigkeit versunken. Wir brachten sie zurück. Doch ihr Körper und Geist waren verändert. Wir mussten ihr einen Teil unserer Unsterblichkeit geben, damit sie überlebte, und im Gegenzug bekamen wir ihre Gefühle und Gedanken – über dich. «
Seld schüttelte den Kopf, drehte sich wieder zu Alema um. »Das ist unmöglich. Sie ... sie ist tot ...«
» Wir verstanden, dass das Ewige in den Menschen verloschen war. Sie hatten vergessen, woher sie kamen, und deswegen war es für sie unmöglich, mit unserem Geist zu verschmelzen. Durch Alema erkannten wir die menschliche Natur und wie sie sich weiter ent-wickelt hatte. Und wir wussten durch ihre Gedanken, dass wir dich zu uns bringen konnten, um mit dir die Prophezeiung zu erfüllen. «
»Sie war die ganzen Jahre bei euch«, schrie Seld, der sich wieder dem Wächter zuwendete. »Ich dachte, sie wäre tot!« Er machte einen Schritt nach vorne und schlug mit der Faust gegen die Brust des Drachen, der den Schlag reglos hinnahm. Seld trommelte nun mit beiden Fäusten. »Ich verfluche die Drachen!«
Selds Schläge wurden schwächer, dann sank er zu Boden und barg sein Gesicht in den Händen, schluchzte. So verharrte er für eine Zeit, die ihm fast wie eine Ewigkeit vorkam. Schließlich verstummte er, hob seinen Kopf und stellte sich auf. Er schritt zu Alema, neben der er wieder in die Knie ging.
Seine ausgestreckte Hand berührte Alema an der Schulter. Ihre Augen öffneten sich sofort. Alemas und sein Blick begegneten sich, und im gleichen Moment war es, als berührte Selds Geist den ihren.
Seld sah sich selbst. Er lief an einem hellen Tag durch Klüch. Er nagelte ein Brett an sein Haus. Er saß in einer sternenklaren Nacht auf einem Stein nahe Hequis – Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit in Hequis, wie sie sie gesehen hatte.
»Alema«, sagte er. Dann erlebte er ihre letzten Sekunden als Mensch: Er fühlte die Hände, die sie in die Schwärze stießen, hörte ihre Schreie, erlitt den Schmerz, als sich Steine in ihren Rücken bohrten. Und im Geist starb er mit Alema in der Drachenhöhle. Dann kehrte sie zurück, von den Drachen wieder ins Leben geführt.
Seld war wieder ganz bei
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