Drachenwächter - Die Prophezeiung
Seld vor seine Hütte trat. Er fühlte sich krank und müde und wusste nicht, ob die Alpträume der letzten Nacht vielleicht sogar Geistesreisen gewesen waren. Abermals hatte er die Drachen in seinen Träumen gesehen.
Das erste Mal, dass sein Geist seinen Körper verlassen hatte, lag etwa fünf Jahre zurück. Seld war in seinem selbstauferlegten Exil auf den Wimor-Bergen gewesen, als er von einem Moment zum nächsten mit Alema in eine tiefe Höhle fiel. Dies war nur ein flüchtiger Eindruck, doch als er wieder zu sich kam, fand er sich auf dem Boden liegend wieder, aus einer Wunde an seiner Stirn floss Blut; er war beim Fallen mit dem Kopf angeschlagen. Seld hatte dies als eine Ohnmacht abgetan, doch wenige Wochen später widerfuhr ihm das Gleiche, und dann wieder. Manchmal vergingen Wochen ohne eine Geistesreise, und manchmal wurde er täglich von ihnen übermannt.
Die Gipfel der Koan-Berge wurden vom Nebel verschluckt. Selds Blick versuchte, durch den Dunst zu dringen und die verlassene Bergkette nach Zeichen der Drachen abzusuchen. Wären noch einige Drachen auf den Bergen zurückgeblieben, dann müssten die Hequiser nicht ihr Dorf verlassen, doch nichts war mehr von den Drachen zu sehen. Die Spuren, die die Drachenklauen hinterlassen hatten, zogen sich durch das gesamte Dorf und waren durch einen leichten Regen, der in den Morgenstunden niedergegangen war, zu matschigen Furchen geworden.
Die Hequiser beluden die Wagen, die sie auf dem Marktplatz versammelt hatten und spannten ihre Lif davor an. Alle Lagerhäuser wurden leer geräumt, und die Vorräte, die für den Winter gedacht waren, wurden mitgenommen. Kinder saßen auf den Steinen des Brunnens in der Mitte des Marktplatzes und beobachteten mit fragenden Gesichtern ihre Eltern.
Seld hatte zunächst befürchtet, dass viele der Hequiser ihr Heimatdorf nicht verlassen wollten, doch nun sah er, dass seine Sorgen un begründet waren. Er blickte in die Mienen der Hequiser und fühlte, dass sich jeder Einzelne mit großer Angst auf diese Reise begab. Niemand von ihnen wusste, ob sie jemals in dieses Dorf zurückkehren konnten oder in welchem Zustand sie es wieder vorfinden würden. Das verlassene Hequis war eine Einladung an Plünderer, die töricht genug waren, trotz der Dämonen hierher zu kommen. Doch die Angst vor der bevorstehenden Reise lähmte niemanden von ihnen; alle waren sie bereit, mit Seld zu gehen.
Ark, Erima und Hem saßen auf dem Kutschbock ihres Wagens, der von zwei kräftigen Lif gezogen wurde. Hinter ihnen lagerten die Habseligkeiten der Familie unter der hellen, von gebogenen Stöcken gehaltenen Plane.
Ark sprang herab und packte den Zügel eines Lif. »Wir sind bereit zum Aufbruch. Wann werden wir Hequis verlassen?«, fragte er.
»Sobald alle fertig sind, aber sicher noch, solange es hell ist. Wir sollten heute bis Kequor kommen, wo wir die Nacht verbringen.«
Ark blickte zum Horizont, hinter den die Drachen tags zuvor marschiert waren. »Wir werden niemals wieder so leben wie bisher.«
»Nein«, antwortete Seld leise. »Hequis wird nie wieder dasselbe sein.« Kopfschmerzen breiteten sich wie Wellen durch Selds Kopf aus, aber er ließ sich nichts anmerken. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. Waren dies Zeichen einer bevorstehenden Geistesreise oder nur Müdigkeit? Seld atmete tief durch und ging zum Brunnen im Zentrum des Marktplatzes. Er tauchte seine Hände in das Wasser und trank langsam – es war, als schlucke er Eisbrocken. Mehrere Handvoll Wasser rieb er sich ins Gesicht und in die Haare. Da sprach ihn jemand mit seinem Namen an.
Seld drehte sich um. Telam Jerv, Mitglied des Rats, stand vor ihm. Der Mann war etwas jünger als Seld, aber wirkte in seiner offensichtlichen Verlegenheit wie ein Kind, das etwas Verbotenes getan hatte und es nun seinen Eltern beichten musste. »Ich muss mit dir reden«, sagte er.
»Was gibt es?«
»Ich ... meine Familie und ich – wir möchten in Hequis bleiben.«
Seld begriff den Sinn der Worte erst nach einigen Augenblicken. »Warum?«
Telam wich Selds Blick aus. »Meine Familie glaubt, dass es nicht die richtige Entscheidung ist, das Dorf zu verlassen.«
»Du hast während der Ratssitzung kaum etwas von dir gegeben, aber dem Vorschlag hast du dein Wohlwollen gegeben.«
»Dort habe ich für das Dorf gesprochen. Doch meine Familie stimmt dem nicht zu.«
Seld legte die Stirn in Falten. »Ich kenne deinen Vater. Er möchte hier bleiben, nicht wahr?«
Telam nickte zögerlich.
»Und du? Denkst du
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