Drachenwächter - Die Prophezeiung
wie er?«
»Ich möchte mitgehen.«
»Deine Entscheidung im Rat gilt auch für deine Familie. Glaubst du nicht, dass heute der Tag gekommen ist, an dem du gegen deinen Vater sprechen musst?«
Telams Blick füllte sich mit Entsetzen. »Nein!«, rief er aus. »Das kann ich nicht tun.«
»Dein Vater hat dir den Platz im Rat aus freien Stücken übergeben, und damit bist du das Oberhaupt eurer Familie.«
»Ja ... aber ich kann nicht gegen ihn sprechen. Ich werde mit meiner Familie in Hequis bleiben.«
»Wenn die Dämonen ...«
Telam hob eine Hand. »Ich weiß, dass wir uns in Gefahr begeben. Bitte lass uns zurück.«
Seld nickte. »Nun gut.«
Als die Sonne am höchsten Punkt stand, waren die Hequiser zum Aufbruch bereit. Die Wagen hatten eine Reihe gebildet, die vom Marktplatz zwischen den Häusern hindurch bis zum Rand von Hequis reichte. Seld schritt die Wagen ab, die insgesamt mehr als vier Dutzend zählten. Vor allem die Kinder und die Alten saßen auf den Wagen unter der Plane, die Männer und Frauen ritten oder liefen neben den Wagen. Viele Familien hatten ihre Jari und weitere Lif hinten an den Wagen festgebunden. Die Jari wühlten mit den Vorderläufen den Boden auf und suchten mit ihren Schnauzen im Erdreich nach Essbarem.
Die zehnköpfige Jerv-Familie stand vor ihrem Haus in einer Seitenstraße des Marktplatzes und beobachtete, wie ihre Freunde und Nachbarn sich aufmachten, ihr Heimatdorf zu verlassen. Seld hatte Telam noch einmal gesagt, dass sie ihnen jederzeit folgen konnten und dass sie bei Anzeichen von Dämonen sofort fliehen sollten. Er hob zum Abschied seine Hand, aber nur Telam winkte zurück. Der Vater des jungen Mannes stand mit verschränkten Armen etwas abseits und ließ seinen missbilligenden Blick auf Seld ruhen.
Einige Alte hatten das Dorf ebenfalls nicht verlassen wollen. Sie waren gebrechlich und wollten die Strapazen der Reise nicht auf sich nehmen, und sie wussten, dass sie den kommenden Winter nicht überleben würden. Seld hatte ihre Familien überzeugen müssen, dass sie nicht bei ihren Alten blieben, und diese hatten ihn dabei unterstützt, schickten ihre Kinder und Kindeskinder fort. Nahrung und Feuerholz wurde in die Quartiere der alten Leute gebracht, dann verabschiedeten sie sich von ihren Kindern, die sie niemals wieder sehen würden.
Nach einem letzten Blick zur Jerv-Familie ließ Seld seine Hand sinken, dann gab er das Zeichen zum Aufbruch. Die Hequiser trieben ihre Lif an, woraufhin sich die ersten Wagen ruckartig in Bewegung setzten – die Hufe der Lif scharrten über den Boden, und Wagenräder quietschten.
Seld ging zu Fuß der Kolonne voran, seine beiden Lif hatte er am ersten Wagen angebunden. Er warf keinen Blick zurück, aber die Hequiser taten es. Wind blies von den Bergen kommend gegen ihre Rücken, als die Jerv-Familie stumm in der flachen Senke des Dorfes zurückblieb. Im Stillen bat Seld die Götter, auf die Familie und die Alten zu achten.
Mit jedem Schritt, der die Hequiser weiter von ihrem Heimatort entfernte, verstummten mehr Gespräche auf den Wagen. Der Wind von den Bergen ließ diejenigen frösteln, die neben der Kolonne liefen oder auf einem Lif ritten. Über ihren Köpfen zogen sich die Wolken zusammen: Ein Gewitter kündigte sich an.
Seld ging von einem Wagen zum anderen, nachdem das Dorf aus der Sichtweite der Kolonne verschwunden war. So weit das Auge reichte, erstreckte sich eine karge, hügelige Landschaft, die von Wildkraut bedeckt war. Einige schmale Flüsse durchzogen von den Bergen kommend die Umgebung, und hier und da standen dürre Bäume beieinander. Im Norden zeichneten sich die zackigen Umrisse der Koan-Berge ab. Ihre Gipfel waren immerzu mit Schnee bedeckt, und auch die meisten Hänge waren von Gletschern und weit reichenden Schneebrettern verziert. Wo der Schnee sich nicht niedergelassen hatte, ragte graues Gestein auf. Die Koan-Berge, Heimstatt der Drachen, Grenze zum Dämonenland ... niemals hatte sie ein Mensch überquert.
Selds Gedanken waren bei Telam Jerv. Hatte er richtig gehandelt, ihn und seine Familie im Dorf zurückzulassen? Vielleicht hätte er sich weiter bemühen sollen, die Familie mitzunehmen. Wenigstens waren keine anderen Hequiser dem Beispiel der Jerv-Familie gefolgt. Selbst die Tamat-Familie hatte sich der Kolonne angeschlossen.
Regen setzte ein, der bald zu einem schweren Vorhang aus Nässe wurde. Er erdrückte auch die letzten Gespräche unter den Hequisern, und stumm ließen sie das Wasser an sich
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