Drachenwege
Passieren den Kopf nicht einzuziehen brauchte. Als der Junge dem Gang in das Innere des Felsmassivs folgte, merkte er, dass kaum ein Meter geradlinig verlief. Mal stieg der Boden an, dann wieder senkte er sich, und der kurze Tunnel schlängelte sich in engen Kurven.
Kindan wunderte sich, dass die Meisterin Aleesa, die aussah, als litte sie unter der schmerzhaften Ge-lenkfäule, diese schwierige Strecke, auf der sie bei ihrer Größe wohl kriechen musste, zu bewältigen vermochte.
Doch dann fiel ihm ein, dass sie vermutlich viele Helfer hatte, die die täglich anfallende Pflege der Wachwhere übernahmen.
Als er schließlich die dunkle Kaverne mit der Brut-stätte erreichte, staunte er, wie angenehm es hier roch.
Offenbar legte Aleesa viel Wert auf Sauberkeit. Er räusperte sich und stieß die leisen, zirpenden Laute aus, die sein Vater immer von sich gegeben hatte, wenn er Dasks Stall betrat.
Zu seiner Überraschung vernahm er hinter sich
Aleesas Stimme, die seine Begrüßung offenbar hören konnte. »Nun ja, wenigstens weißt du, wie du dich
einem Wachwher zu nähern hast.«
Vor ihm öffnete sich ein Augenpaar, und in der
dämmrigen Beleuchtung sah er die Königin, aber nicht ihr Gelege. Aleesa hatte von zwölf Eiern gesprochen, und nun musste er die Königin darum bitten, dass sie ihm eines davon überließ. Zwei Leute, die mit dem gleichen Ansinnen gekommen waren, hatte sie bereits abgelehnt.
Kindan fuhr fort, die Königin mit zwitschernden und tschilpenden Lauten zu locken. Er tat es mit Inbrunst und bemühte sich, höflich und drängend zugleich zu klingen. Für ihn hing viel davon ab, dass er Erfolg hatte.
Er wollte Natalon beweisen, dass er zum Wher-Führer taugte, und dass das Camp nicht umsonst diese große Menge Kohle zur Verfügung stellte.
Indem Kindan versuchte, sich die Königin geneigt zu machen, wuchs seine Zuversicht. Er wusste mehr über den Umgang mit einem Wachwher, als er gedacht hatte.
Vielleicht steckte wirklich ein Körnchen Wahrheit in der Vermutung, dass sich bestimmte Eigenschaften vom Vater auf den Sohn vererben und er der geborene Wher-Führer war. Und tatsächlich überschlugen sich in seinem Kopf die Ideen - ihm fiel ein, was er in diesem Augenblick tun musste.
Als er der Königin so nahe gekommen war, dass er
sie berühren konnte, streckte er die rechte Hand nach ihr aus. Am Handballen befand sich eine winzige, kaum
sichtbare Narbe. An der Stelle hatte sein Vater seine Haut eingeritzt, bis Blut herausquoll, und den alten Dask das Blut auflecken lassen.
Kindan änderte die Töne, die er von sich gab, und das hohe Zirpen senkte sich zu einem sanften, ruhigen
Trillern. Gleichzeitig hielt er der Königin die Hand unter die Nase. Die Zunge des Tieres schnellte aus dem Maul und beleckte den Handballen. Es war ein
angenehmes Gefühl, denn die Zunge war nicht etwa
feucht, sondern trocken. Dasks Zunge hatte sich
manchmal schleimig angefühlt, und mitunter hatte
Kindan sich davor geekelt. Nun steigerte er das Trillern zu einer Tonfolge, die Glück und Dankbarkeit
ausdrücken sollte.
Die Königin antwortete mit klickenden Geräuschen,
und Kindan wusste, dass ihm die Begrüßung gelungen war. Was käme als Nächstes? Er musste ihr zu verstehen geben, dass er eines ihrer Eier mitnehmen wollte.
Sein Vater hatte die Frage nie gestellt, deshalb hatte er keine Ahnung, mit welchen Lauten man dieses Anliegen kundtat. Also improvisierte er und gab ein fragend klingendes Brrr von sich. Seine Brüder hatten sich oft über ihn lustig gemacht, weil er in seiner Aussprache das »r« übertrieben rollte. Nun kam ihm diese Eigenschaft vielleicht zugute.
Obwohl Kindans gesamte Familie davon profitierte,
dass der Vater Wher-Führer war, hatte keiner seiner Brüder sich berufen gefühlt, dem Vater nachzueifern.
Nun, wenn er, Kindan, das Ei eines Wachwhers nach
Hause brachte, gälte er fortan im Camp als eine Art Held.
Während des Anflugs auf die gewaltige Steilklippe, die Aleesas Festung beherbergte, hatten sich die Männer darüber unterhalten, wie wichtig die Anschaffung eines Wachwhers sei. Es kam darauf, an, ein gesundes Exemplar großzuziehen, und vielleicht selbst welche zu züchten, wenn das erstandene Tier den Ansprüchen des Bergwerksmeisters genügte.
Als Dask jung war, hatte er zwei Gelege gezeugt.
Möglicherweise war Aleesa deshalb bereit, jemandem aus Danils Familie das Ei eines Wachwhers zu überlassen, weil sie davon ausgehen konnte, dass das Tier gut behandelt
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