Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
eindringlich, uns von der »furchtbaren Burg« fernzuhalten, eine Mahnung, die der Rest der Gruppe
nachdrücklich bekräftigte. Die dreißig Minuten vergingen wie im Flug, und ich trennte mich nur sehr ungern von den freundlichen
Menschen. Während wir uns umarmten und zum Abschied die Hände schüttelten, wusste ich, dass ich diese Leute höchst wahrscheinlich
niemals wiedersehen würde. Denn der Weg der Zigeuner war, ihrer Natur nach, ungewiss.
»Nun, das war äußerst interessant«, meinte Dr. van Helsing, als wir beide uns wieder auf den Weg machten.
»Ich hatte niemals Verwandte. Erst kürzlich habe ich erfahren, dass meine Mutter vielleicht Zigeunerblut in den Adern |449| hatte. Zu denken, dass einer meiner fernen Vorfahren vielleicht ein Mitglied dieser Familie war, ist wirklich aufregend.«
»Ja. Aber es ist doch schade, dass sie uns nicht helfen konnten oder wollten, Draculas Burg zu finden. Was mich allerdings
auch nicht besonders überrascht hat.« Der Professor verstummte einen Augenblick und sah mich dann merkwürdig an. »Was hat
die Alte damit gemeint, als sie Ihnen vorhersagte, dass Sie gezwungen sein würden, eine wichtige Entscheidung zu treffen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich, während mich ein kleiner Schauder überrieselte.
Als wir wenige Meilen auf der Straße weitergefahren waren, hatten wir den höchsten Punkt des Borgopasses erreicht und hielten
an, um uns verwundert umzuschauen. In jeder Richtung erstreckten sich endlose Berge und Täler, die von dichtem Nadelwald bedeckt
waren. Dazwischen leuchteten vereinzelte Laubbäume in jeder Schattierung herrlichster Herbstfarben, von Grün bis Orange, Gold,
Gelb, Rotbraun und Rot. Es war atemberaubend schön. Doch zu meiner Bestürzung konnte ich nirgends eine Burg erblicken. Nirgends
war auch nur ein einziges Zeichen einer menschlichen Behausung auszumachen.
Eine Meile weiter zweigt eine Nebenstraße ab.
Draculas Stimme erklang so unvermittelt in meinem Kopf, dass ich erschrocken zusammenzuckte.
Ich habe sie mit drei Steinen und einem Holzkreuz markiert
, fuhr er fort.
»Als ein kleines Amüsement für Herrn van Helsing. Biegt dort rechts ab und folgt der Straße.
Danke
, dachte ich,
aber was dann?
Nur Geduld. Ich führe dich. Du bist beinahe da. Du liegst schon fast in meinen Armen.
Laut sagte ich: »Wir müssen weiterfahren, Professor. Das ist der richtige Weg. Weiter vorn zweigt eine Nebenstraße ab.«
»Woher wissen Sie das? Ich kann die Burg nicht sehen.«
|450| »Ich habe nur so ein Gefühl.«
Der Professor nickte und ließ den Pferden die Zügel. Schon bald erreichten wir eine Abzweigung. »Aha!«, rief er. »Sehen Sie
dieses Kreuz? Das müssen die Anwohner dort errichtet haben, zum Schutz oder als Warnung. Wir sind wahrhaftig auf der richtigen
Fährte.«
Dracula sagte mit einem kleinen Lachen:
Es freut mich, dass er es zu schätzen weiß, denn ich habe mir die Finger versengt, als ich es aufstellte.
Wir kamen nur langsam voran. In die Nebenstraße mündeten von allen Seiten viele andere Wege. Wir wussten nicht einmal immer
mit Sicherheit, ob es überhaupt Wege waren, denn sie waren vernachlässigt und zugewuchert. Um alles noch komplizierter zu
machen, setzte nun leichter Schneefall ein. Aber Nicolaes Stimme gab mir weiterhin Anweisungen. Es kam mir so vor, als hätte
er für uns eine sehr umständliche Route gewählt, denn obwohl wir den ganzen Tag lang gefahren waren, konnten wir noch kein
Zeichen von der Burg erspähen. Der Professor schien sich jedoch keine Gedanken zu machen.
Wir fuhren bis zur Dunkelheit weiter, durch eine dicht bewaldete und felsige Gegend, immer bergan. Da wir nun unserem Ziel
so nah waren, meinte der Professor, wir sollten uns eine ausgedehnte Rast gönnen. Also schlugen wir unser Nachtlager im Wald
auf. Während Dr. van Helsing die Pferde ausspannte, anband und fütterte, machte ich mit dem mitgebrachten Holz ein Feuer und
bereitete das Abendessen zu. Der Duft des gekochten Essen sagte mir jedoch überhaupt nicht zu.
Als der Professor sich am Feuer zu mir gesellte, reichte ich ihm mit einem Lächeln seinen Teller und sagte: »Entschuldi gen Sie mich, aber ich habe bereits gegessen. Ich hatte solchen Hunger, dass ich nicht warten konnte.«
Ich bemerkte, dass er meine Worte anzweifelte. Aber er wandte nur den Blick ab und aß schweigend.
|451| Er hatte mehrere Planen und eine Menge Tau gekauft, um daraus Zelte zu unserem Schutz zu errichten. Aber
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