Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
England.«
»Wo? In Whitby?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden. Zwar genieße ich den Frieden und die Ruhe auf dem Land und in kleinen Städtchen wie
diesem hier, doch im Allgemeinen ist mir das lebhafte Treiben einer Großstadt wie London lieber.«
»Mir auch. London ist eine so lebendige Stadt! Es gibt dort ungeheuer viel zu sehen und zu tun. Wie gern ich den Piccadilly
hinaufgehe. Sind Sie schon einmal in die Kuppel von St. Paul’s gestiegen? Oder haben Sie sich die Westminster Abbey und das
Parlamentsgebäude angesehen?«
|82| »Noch nicht.«
»Oh! Aber das müssen Sie machen! Wenn Sie ein Haus in London finden, werden Sie sich dann dort niederlassen, oder wird es
eher ein Feriendomizil sein?«
»Wir werden sehen. Ich sehne mich schon seit geraumer Zeit nach einem neuen Lebensumfeld, und Ihr großartiges Land ist wahrhaftig
der Mittelpunkt der Welt.« Er hob die Augen und schaute mich an. »Und jetzt, da ich es … gesehen habe, halte ich es durchaus
für möglich, mich für immer hier niederzulassen.« Sein Blick war von solcher Intensität, dass mir die Hitze in die Wangen
stieg und ich mich zwingen musste, die Augen von ihm loszureißen.
»Ich hoffe, dass Sie glücklich werden, ganz gleich, wie Ihre Wahl ausfällt.« Ein kleines Schweigen senkte sich über uns, während
ich auf den fernen Mond starrte. Plötzlich durchfuhren mich Schuldgefühle wie ein scharfer Schmerz. Was machte ich da? Ich
tanzte und plauderte die ganze Nacht hindurch mit Herrn Wagner, während der Mann, dem ich versprochen war, vermisst wurde,
vielleicht erkrankt war oder in Gefahr schwebte! Ich schämte mich plötzlich sehr über mein Verhalten. »Es ist schon spät,
Sir. Ich sollte nun besser Lucy suchen und mit ihr in unsere Pension zurückkehren. Vielen Dank für einen wunderbaren Abend.«
Er erhob sich mit unverhohlenem Bedauern. »Ich habe Ihre Gesellschaft sehr genossen, Fräulein Murray. Darf ich um die Ehre
bitten, Sie und Ihre Freundin nach Hause zu begleiten?«
»Vielen Dank, aber unsere Pension liegt gleich hier, ein Stück weiter die Straße hinauf, und …« Es würde niemals angehen,
dass Frau Westenra oder unsere Pensionswirtin Frau Abernathy uns sah, wie wir zu dieser späten Stunde in Gesellschaft eines
fremden, gutaussehenden Herren nach Hause spaziert kamen. Da ich nun schon wusste, wie heftig mein Körper auf seine Berührung
reagierte, wagte ich nicht, ihm die Hand zu geben. Ich neigte nur leicht den Kopf und knickste, während ich sagte: »Gute Nacht,
Herr Wagner.«
|83| Er verbeugte sich. »Gute Nacht, Fräulein Murray. Angenehme Träume.«
Seine tiefe Stimme hallte noch in mir wider, während ich eilends in den Pavillon ging, wo ich einige sehr ernste Ermahnungen
aussprechen musste, um Lucy von ihrem letzten Tanzpartner loszueisen. Mit einem tiefen Seufzer sagte sie ihm endlich Adieu
und erlaubte mir, sie nach draußen zu führen. Auf dem Heimweg in unsere Pension wirbelte Lucy fröhlich auf der Straße herum,
hatte die Hände verzückt an die Brust gepresst und hauchte atemlos: »Oh, was für ein Abend! Ich habe mit sechs verschiedenen
Partnern getanzt, Mina. Mit sechs! Einmal wollten wirklich und wahrhaftig zwölf Herren gleichzeitig mit mir den nächsten Tanz
wagen. Und alle waren sie so reizend und ernsthaft und aufmerksam. Doch ich muss zugeben, dass keiner so gut ausgesehen hat
wie dein Herr Wagner!«
»Er ist nicht
mein
Herr Wagner«, erwiderte ich errötend.
»Oh, das glaube ich aber doch.« Lucy hakte sich bei mir unter und fuhr fort: »Dein Herr Wagner ist der attraktivste Mann,
den ich je gesehen habe! Ich habe immer gedacht, dass Arthur gut aussieht. Aber nun erscheint er mir im Vergleich ziemlich
unscheinbar.«
»Lucy, ich stimme dir zu, dass Herr Wagner sehr gut aussieht, aber das ist bei einem Mann nicht die wichtigste Eigenschaft.«
»Natürlich nicht! Herr Wagner ist auch ein brillanter Tänzer. Alle Frauen haben ihn angeschaut. Er war der beste Tänzer im
Raum. Ich hätte mein Leben gegeben für die Chance, einmal einen Walzer mit ihm zu tanzen, wenn du ihn nicht den ganzen Abend
lang mit Beschlag belegt hättest.«
»Das habe ich keineswegs gemacht.«
»Herr Wagner hat zudem hervorragende Manieren und einen so zauberhaften Akzent. Es ist seltsam, aber als ich ihn zum ersten
Mal sprechen hörte, schien mir seine Stimme merkwürdig vertraut zu sein, und ich überlegte, wo wir uns |84| vielleicht schon begegnet sein
Weitere Kostenlose Bücher