Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
bewusst, dass mein damaliges Benehmen höchst unschicklich war,
aber ich bereute nichts. All das war nun |143| Vergangenheit. Es war vorbei. Doch ich hatte noch die Erinnerungen, die ich hervorholen konnte und die mir ein Lächeln auf
die Lippen zauberten, wann immer ich es wollte, ehe ich sie wieder sicher dort verwahrte, wo sie hingehörten.
Ich fand es herrlich, im alten Haus von Herrn Hawkins zu leben. Von den Fenstern in unserem Schlafzimmer und vom Salon aus
sah ich auf große, dichtbelaubte Ulmen, die sich majestätisch vor dem alten gelben Sandstein der Kathedrale abzeichneten.
Bei offenem Fenster konnte ich die Glocken der Kathedrale die Stunden schlagen hören, und das Krächzen und Schwatzen der Raben
erfreute mich den lieben langen Tag.
Schon bald wurde ich jedoch rastlos. Ich hatte meine freie Zeit in Whitby genossen. Damals hatte ich nur für mich entscheiden
müssen, wohin und wie lange ich spazieren gehen sollte, wann ich essen und welche Bücher ich lesen wollte. Jetzt war ich jedoch
nicht mehr im Urlaub. Von früher war ich den streng geregelten Tagesablauf einer Lehrerin gewöhnt. Eines Morgens fragte ich
Jonathan, ob ich ihm vielleicht bei der Arbeit helfen könnte oder ob es etwas gäbe, das auf der Maschine geschrieben werden
müsste. Aber er erwiderte, nein, im Augenblick nicht.
Mich verlangte nach einer sinnvollen Beschäftigung. Ich sehnte mich danach, anderen nützlich zu sein. Immer wieder spukten
mir Herrn Wagners Worte durch den Kopf: »Ich denke doch, dass die
neue Frau
von heute gründlich darüber nachdenkt, was
sie
nach einer Eheschließung möchte, und nicht nur darüber, was die Gesellschaft ihr diktiert oder was ihr Ehemann von ihr erwartet.«
Was sollte eine Frau denn machen, fragte ich mich, wenn sie feststellte, dass die Rolle der treusorgenden Gattin und Hausfrau
sie nicht ausfüllte?
Eines Abends, nachdem sich Herr Hawkins zurückgezogen hatte und Jonathan und ich lesend und arbeitend am Kamin unseres Wohnzimmers
saßen, sagte ich: »Jonathan, ich würde gern mit dir über etwas reden.«
|144| »Was ist es denn, meine Liebe?«, antwortete er, ohne von den Dokumenten aufzuschauen, die er durchlas.
»Herr Hawkins hat unten ein sehr schönes Klavier. Was würdest du davon halten, wenn ich ein paar Stunden in der Woche unterrichte?«
Jonathan blickte überrascht von seinen Papieren auf. »Kla vierstunden ? Soll das ein Scherz sein?«
»Ich meine es vollkommen ernst. Ich habe in der Schule Musikunterricht gegeben. Mir fehlen meine Schülerinnen, und mir fehlt
das Unterrichten. Es wäre eine nützliche Beschäftigung, mit der ich meine Zeit verbringen könnte.«
»Mina«, erwiderte er geduldig, »ich verstehe, dass dir die Schule fehlt. Du hast mehr als dein halbes Leben dort verbracht.
Aber das geht vorüber. Ich bin sicher, dass du mit der Zeit viele andere Dinge finden wirst, mit denen du dich beschäftigen
kannst.«
»Was für Dinge?«
»Ich weiß nicht. Was machen denn andere junge Ehefrauen?«
»Ich nehme an, sie verbringen ihre Zeit damit, ihre neuen Wohnungen einzurichten. Aber dieses Haus ist schon so wunderschön
ausgestattet, und es ist außerdem immer noch das Haus von Herrn Hawkins und nicht unseres.«
»Hast du denn nicht alle Hände voll damit zu tun, das Personal zu beaufsichtigen?«
»Das Personal führt dieses Haus auch ohne meine Einmischung außerordentlich gut und reibungslos.«
»Dann schließe dich einer Frauengruppe an. Oder mache Handarbeiten. Das hat dir doch immer Vergnügen bereitet, nicht wahr?«
»Handarbeiten?«, erwiderte ich mit einer Grimasse. »Ich habe zwar den Mädchen in der Schule das Sticken beigebracht, aber
mir selbst hat es nie gefallen. Das machen Frauen nur, wenn sie nichts Besseres zu tun haben. Ich hatte gehofft, du würdest
meine Hilfe in der Kanzlei benötigen, aber das scheint ja nicht der Fall zu sein …«
|145| »Ich begreife, dass dir das Kummer bereitet, Mina. Aber wir sind doch erst einige Wochen verheiratet und nur wenige Tage in
Exeter. Werde erst einmal heimisch hier und gewöhne dich an dein neues Leben. Eines Tages, wenn wir mit Kindern gesegnet werden,
hast du bestimmt viel zu tun und denkst nicht mehr daran, anderer Leute Kinder zu unterrichten oder in meiner Kanzlei zu arbeiten.«
»Aber Jonathan, das liegt in der Zukunft. Ich spreche von meinem jetzigen Leben.«
»Jetzt bist du eben eine verheiratete Frau. Und verheiratete Frauen arbeiten nicht außerhalb
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