Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
schließlich gab es einen roten Faden des Zusammenhangs in dieser Geschichte.
Graf Dracula bereitete sich darauf vor, nach London zu kommen. Nach Jonathans Beschreibung war er jedoch ein alter, bleicher,
weißhaariger Mann … Und der Mann, den wir gesehen hatten, war schwarzhaarig gewesen und hatte eine rosige Gesichtsfarbe gehabt.
Ein Mensch konnte sich nicht verjüngen – oder doch? Aber er konnte sich mit Hilfe von Schminke und einer Perücke tarnen, wie
es Dracula wohl in jener Nacht getan hatte, als er sich als Kutscher ausgab. Vielleicht hatte er es auch an jenem letzten
Tage getan, als Jonathan ihn mit blutbefleckten Lippen in seiner sargähnlichen Kiste vorgefunden hatte? Was hatte der Graf
zuvor verzehrt? Wenn Jonathan nicht entkommen wäre, hätte Dracula ihn ermordet?
Mit einem Schaudern dachte ich: Wenn der Mann, den wir in Piccadilly gesehen hatten, Graf Dracula war, wenn er tatsächlich
das Ungeheuer war, das mein Mann beschrieben hatte, was für Unheil könnte er in dieser Stadt mit ihren vielen Millionen Menschen
anrichten! Die Worte, die Jonathan an unserem Hochzeitstag, bezogen auf sein Tagebuch, gesprochen hatte, kamen mir auf einmal
wieder in den Sinn: »… aber halte seinen Inhalt von mir fern, es sei denn, es entsteht eine Situation, die es unabdingbar
macht, mir die bitteren Stunden ins Gedächtnis zurückzurufen, über die ich hier, schlafend oder wachend, Buch geführt habe.«
Es schien, als käme tatsächlich eines nicht mehr allzu fernen |176| Tages eine solche
unabdingbare Situation
auf uns zu. Und wir durften nicht vor dieser heiligen Pflicht zurückschrecken. Wir mussten vorbereitet sein.
Kaum war Jonathan am nächsten Morgen zur Arbeit aufgebrochen, holte ich meine Schreibmaschine hervor und fing an, seine Aufzeichnungen
zu übertragen. Ich brauchte den größten Teil des Tages dazu. Als ich fertig war, suchte ich noch das Tagebuch, das ich in
Whitby begonnen hatte, und schrieb es ebenfalls auf der Maschine ab. Jonathan war recht lange in der Kanzlei, und so konnte
ich bis weit in den Abend hinein arbeiten. Als ich schließlich fertig war, legte ich die maschinegeschriebenen Seiten erschöpft,
aber zufrieden in mein Arbeitskörbchen. Jetzt, dachte ich, haben wir es bei Bedarf auch für die Augen anderer bereit.
Natürlich erwähnte ich beim Abendessen meine Arbeit mit keinem einzigen Wort.
»Ich habe morgen geschäftlich in Launceston zu tun«, erklärte mir Jonathan, während er gedankenverloren sein Roastbeef kaute
und an seinem Wein nippte. »Ich werde über Nacht dort bleiben müssen.«
»Oh?«, antwortete ich enttäuscht. »Du wirst mir fehlen. Ist dir klar, dass dies das erste Mal ist, dass wir getrennt sind,
seit wir geheiratet haben?«
»Es tut mir leid, aber es ließ sich nicht ändern. Es ist doch nur eine Nacht, Liebes. Übermorgen komme ich zurück, wahrscheinlich
recht spät.«
Als wir einander am nächsten Morgen zum Abschied küssten, versicherte mir Jonathan, wie sehr er mich liebte, und hielt mich
fest umarmt. Aber ich spürte, dass er mit seinen Gedanken bereits woanders war, wie stets, seit wir einander in Budapest wiedergesehen
hatten. Als ich ihm nachschaute, während er die Straße hinunterging, flüsterte ich: »Gib gut auf dich acht! Hoffentlich bleibt
jede Aufregung von dir fern.«
Dann sank ich auf einen Stuhl und weinte lange.
An jenem Morgen wurde mit der Post ein Brief von Abraham |177| van Helsing gebracht, dem Mann, der mir wenige Tage zuvor das Telegramm geschickt hatte.
24. September
vertraulich
Sehr geehrte gnädige Frau,
ich bin Ihnen insofern bekannt, als ich Ihnen seinerzeit die traurige Nachricht vom Tod Fräulein Westenras sandte, und bitte
um Entschuldigung, wenn ich mich heute wieder an Sie wende. Durch die Liebenswürdigkeit Lord Godalmings bin ich in den Stand
gesetzt worden, Fräulein Lucys Briefe und Aufzeichnungen zu lesen, und ich bin tief besorgt über einige Angelegenheiten von
einschneidender Bedeutung. Ich fand unter den Papieren einige Briefe von Ihnen und ersah daraus, dass Sie mit Lucy eng befreundet
waren und wie lieb sie sich gehabt haben. Verehrte Frau, um dieser Liebe willen beschwöre ich Sie, helfen Sie mir! Auch zum
Wohle anderer bitte ich Sie, um großes Unrecht wieder gutzumachen und schreckliches Leid zu verhüten – größeres Leid, als
Sie sich vorzustellen vermögen. Kann ich Sie persönlich sprechen? Sie dürfen mir vertrauen, ich bin mit Dr.
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