Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Ende gerade das Kind der Frau verschlungen?
|173| Entsetzt ergriff Jonathan eine Schaufel, um ihn damit zu töten. Doch der Graf wandte wie in Trance im letzten Augenblick den
Kopf und sah ihn mit einem so hasserfüllten Blick an, dass der Schlag ohne große Wirkung blieb. Voller Angst, dass der Graf
aufstehen und ihn ermorden würde, floh Jonathan aus der Kapelle. Er hörte die Zigeuner kommen, zweifellos, um den Grafen auf
der ersten Etappe seiner Reise nach England zu begleiten. Um nichts auf der Welt, beschloss Jonathan, würde er mit jenen höllischen
Schwestern allein in der Burg bleiben! Er würde versuchen, die Burgmauer tiefer hinunterzusteigen, als er es bisher getan
hatte. Und er würde nichts mitnehmen außer den Kleidern am Leibe, seinem Tagebuch und einigen von Draculas Goldstücken. Noch
heute würde er fliehen!
Er schrieb eine letzte, verzweifelte Zeile: »Lebt wohl, ihr alle! Mina!«
Damit endete das Journal.
Ich wusste nicht recht, was ich vom Tagebuch meines Gatten zu halten hatte. Der Bericht war so grauenhaft, dass ich völlig
entsetzt war und in Tränen dasaß. Ich blätterte zurück und schaute mir bestimmte Abschnitte noch einmal an, in der Hoffnung,
vielleicht einige Kurzschriftzeichen falsch gedeutet zu haben. Aber dem war nicht so. Oh! Wie mein armer, geliebter Mann gelitten
haben musste! Kein Wunder, dass er bei seiner Ankunft im Krankenhaus von Budapest von Dämonen und Wölfen, von Geistern und
Blut phantasiert hatte!
Entsprach dieser Bericht der Wahrheit, fragte ich mich, oder war er Jonathans wirrer Phantasie entsprungen? Hatte Jonathan
alle diese Dinge erst geschrieben, nachdem ihn das Nervenfieber ergriffen hatte, oder waren sie erst der Grund dafür? Jonathan
war – wie mir Herr Hawkins immer versichert hatte – der vernünftigste, ruhigste und klar denkendste Mensch, den er je kennengelernt
hatte. Er neigte nicht zu wilden Phantasien … Was den Inhalt seines Tagebuchs nur noch verwirrender und bestürzender erscheinen
ließ.
|174| Ich kehrte wieder zum Anfang zurück, zu dem Teil, in dem Jonathan berichtete, was die Bauern von Werwölfen und Vampiren erzählten.
Ich hatte schon zuvor in Gedichten und Romanen von Vampiren gelesen. Aber das waren nur Phantasiegestalten, die in vielen
Volkserzählungen und dem Aberglauben der Osteuropäer vorkamen. Jonathan hatte diese Bezeichnungen im weiteren Verlauf seines
Tagebuchs nie mehr erwähnt. Doch ließen seine Beschreibungen der Ereignisse unzählige verstörende Fragen in mir aufsteigen.
Jonathan hatte geschrieben, dass sich die drei schrecklichen Frauen in der Burg einfach vor seinen Augen aufgelöst und sich
dann im Mondlicht aus Stäubchen wieder materialisiert hatten! Hatte er sich die Frauen insgesamt eingebildet, oder hatte er
sich in diesem Teil der Geschichte getäuscht? Wenn es diese Frauen gab, in welcher Beziehung standen sie zum Grafen Dracula?
Hatten sie Jonathan zu verführen gesucht oder ihm ein viel größeres Unheil antun wollen? Und was war mit dem unheimlichen
Bündel? Waren wirklich Kinder darin verborgen, die Dracula den Frauen zur Belohnung hinwarf, damit sie sie verschlangen?
Wie, fragte ich mich, vermochte man sich derlei abgrundtief Böses auch nur vorzustellen?
Was nun den alten Grafen, sein grausames Verhalten und seine seltsamen Angewohnheiten betraf, so hatte ich derart viele Fragen,
dass ich kaum wusste, wo ich anfangen sollte. Doch ebenso gut wusste ich, dass ich das Thema Jonathan gegenüber nicht erwähnen
durfte. Vielleicht, überlegte ich, würde ich nie Antworten darauf bekommen.
Oh! Wie schnell sich alles in wenigen Tagen verändert hatte! Manchmal frage ich mich: Wäre es uns besser ergangen, wenn wir
die Wahrheit niemals erfahren hätten?
Es war Viertel nach acht, als der Hall vertrauter Schritte vor dem Haus Jonathans Rückkehr ankündigte. Rasch legte ich sein
Tagebuch in den Schrank zurück und ging hinunter, um |175| ihn zu begrüßen. Ich zwang mich zu lächeln und versuchte, mich so unbezwungen wie möglich zu verhalten. Die Köchin hatte das
Abendessen zubereitet, doch ich verspürte nur wenig Appetit.
Wir zogen uns früh zurück. Nach seinem langen Arbeitstag schlief Jonathan sofort ein. Ich war viel zu erschüttert, um schlafen
zu können. Ich musste unaufhörlich an den Mann denken, den wir in London gesehen hatten. Jonathan war sich sicher gewesen,
dass es der Graf war. Was, wenn er recht hatte? Denn
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