Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dracula - Stoker, B: Dracula

Dracula - Stoker, B: Dracula

Titel: Dracula - Stoker, B: Dracula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bram Stoker
Vom Netzwerk:
mit großer Anstrengung auf und hatte sein Gleichgewicht wiedererlangt, als Mrs. Harker strahlend und glücklich ins Zimmer trat. Sie schien über ihrer Arbeit ihr Elend völlig vergessen zu haben und gab van Helsing eine Anzahl maschinengeschriebener Blätter. Anfangs blickte der Professor sehr ernst auf die Papiere, während er aber las, klärte sich sein Gesicht auf. Dann hielt er die Seiten zwischen Zeigefinger und Daumen und sprach:
    »Freund John, der Sie schon so viele Erfahrungen gesammelt haben, und Madame Mina, die Sie noch so jung sind – ich möchte Ihnen etwas mit auf den Weg geben: Fürchten Sie sich niemals vor dem Denken! Ich hatte seit langem einen halbfertigen Gedanken in meinem Kopf, von dem ich fürchtete, dass er seine Schwingen entfalten würde. Heute aber, mit größerem Wissen, kehre ich dahin zurück, woher der halbe Gedanke kam, und ich erkenne, dass es gar kein halber Gedanke, sondern dass es ein ganzer Gedanke war, wenn auch noch zu jung, um den Flug zu |495| wagen. Und wie es der hässlichen kleinen Ente im Märchen meines Freundes Hans Andersen erging, die nämlich überhaupt keine Ente war, so wird auch mein Gedanke auf seinen stolzen Schwanenflügeln abheben, wenn seine Zeit gekommen ist. Hören Sie, ich lese Ihnen vor, was Jonathan einst geschrieben hat: ›Dann aber war es wieder jener Geist des ersten Dracula, der einen Späteren seines Geschlechts über den breiten Strom gehen und ins Land der Türken einfallen ließ, immer und immer wieder. Wurde er auch zurückgetrieben, wurde sein Heer auch vernichtet und kehrte er auch als Einziger zurück, so griff er dennoch wieder an, denn er wusste, dass nur er allein den Sieg erzwingen konnte.‹ – Was sagt uns das? Nicht viel? Falsch! Der Kinderverstand des Grafen ist unbekümmert, deshalb spricht er sich so frei aus. Ihr Männerverstand sieht auch nichts, der meinige ebenfalls nicht – bis jetzt! Denn nun kommt plötzlich ein Wort von ihr, welches sie ganz gedankenlos benutzt, weil sie ja ebenfalls nicht weiß, was es bedeuten kann – was es bedeuten könnte! So wie in der Natur manche an sich ruhigen Elemente in ihrem Lauf manchmal auf andere prallen und dann – Bum! – einen mächtigen, den Himmel erleuchtenden Blitz verursachen, der einige blind macht, zerstört und tötet, die Erde aber über zahllose Meilen erleuchtet – verstehen Sie mich? Ich will es Ihnen erklären. Um anzufangen: Haben Sie sich je mit der Philosophie des Verbrechens befasst? Ja und nein. Sie, John, kennen sich da aus, denn es hängt mit dem Studium des Wahnsinns eng zusammen. Sie, Madame Mina, hatten mit dem Verbrechen bislang nur in einem, in unserem Fall zu tun. Aber ihr Verstand arbeitet tadellos, und er argumentiert nicht
a particulari ad universale 3
. Verbrecher haben immer etwas Einzigartiges an sich. Es ist dies eine so konstante Eigenschaft des Verbrechens in allen Ländern und zu allen Zeiten, dass sogar die Polizei, die nicht gerade sehr viel Philosophie treibt, durch praktische Erfahrung |496| darauf kommt, dass es sich so verhält. Der Verbrecher ist nur auf eine einzige Art des Verbrechens aus – das ist der
wahre
Verbrecher, dem
sein
Verbrechen vorherbestimmt scheint und der kein anderes will. Dieser Verbrecher hat keinen vollkommenen Menschenverstand. Er ist klug, schlau und erfinderisch, aber sein Gehirn ist dennoch nicht ausgereift – er hat in vielerlei Hinsicht ein Kindergehirn. Auch unser Verbrecher ist zum Verbrechen prädestiniert, auch er hat ein Kindergehirn und agiert wie ein Kind. Weder der kleine Vogel, noch der junge Fisch, ja überhaupt kein junges Tier lernt theoretisch, sondern sie alle lernen durch Erfahrung. Was bereits gelernt wurde, ist der neue Ausgangspunkt für neues Lernen. ›Dos moi pou sto kai kino taen gaen‹, sagt Archimedes. 4 ›Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.‹ Es einmal zu probieren ist für das Kindergehirn der feste Punkt, von dem aus es sich zum Mannesgehirn entwickelt, und bis es auf die Idee kommt, mehr zu erreichen, tut es immer das Gleiche, genau wie bisher. Oh, Madame Mina, ich sehe Ihre Augen offen, Sie erblicken den hellen Lichtblitz, der Ihnen alles meilenweit erhellt!« In der Tat schlug Mrs. Harker ihre Hände zusammen, und ihre Augen begannen zu funkeln. Der Professor fuhr fort:
    »Nun sollen Sie sprechen. Erzählen Sie uns beiden trockenen Männern der Wissenschaft, was Sie mit Ihren leuchtenden Augen erblicken!« Während sie sprach, nahm er ihre Hand

Weitere Kostenlose Bücher