Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
ihre Spenden radikal zurück. Bei 4,14 Euro am Tag bleibt vielen Bedürftigen aber nur der Gang zur Tafel. Bei den dortigen Preisen kann man überleben. Das Netz der Tafeln in Deutschland wird immer dichter. Es bildet so einen Nahrungsmittel-Schattenmarkt für die Unterschicht, der auf freiwilliger Arbeit und Spenden basiert. Ob die Koalition diesen Markt des Mitleids bei der Berechnung ihres 4,14-Regelsatzes gleich mitkalkuliert hat?
10 Regeln …
… für ein Leben mit Hartz IV:
1. Schuhe und Kleidung tragen, bis sie auseinanderfallen.
2. Etwaige (Zeitungs-)Abonnements kündigen.
3. Auf alle (Kultur-)Veranstaltungen verzichten.
4. Alkohol und Zigaretten abgewöhnen.
5. Im Discounter immer nach Sonderangeboten suchen.
6. Nicht hungrig einkaufen gehen.
7. Möglichst zu Hause bleiben.
8. Zwei Mahlzeiten am Tag. Fleisch höchstens zweimal im Monat. Wenig Obst und Gemüse.
9. Geburtstag, Ostern, Weihnachten ignorieren und an diesen Tagen normal weiterleben.
10. Nie den Kopf hängen lassen. Wer das tut, geht unter.
Diese zehn Regeln stammen von einem langjährigen Hartz-IV-Empfänger, den ich am Sonntag in Villingen auf einem ausgestorbenen Edeka-Parkplatz traf. Später mehr zu diesem Zwei-Stunden-Gespräch und einem vorhergehenden, ebenso langen mit einem anderen Betroffenen in einer kleinen Stadt im Kreis Konstanz. Noch ein guter Satz: »Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Mensch.« Das werde ich diesen Monat in meinen zahlreichen Gesprächen lernen müssen. Bequem ist diese Wahrheit nicht. Aber heilsam.
Jobcenter
Heute habe ich mit dem Leiter des Konstanzer Jobcenters gesprochen, Ignaz Wetzel. Vor dem Hintergrund der langen Gespräche, die ich am Tag der deutschen Einheit mit zwei Hartz-IV-Empfängern geführt habe, hatte ich allerlei Fragen. Zum Beispiel die, warum sich viele Bedürftige vom Amt so gegängelt und kontrolliert fühlen. »Die hohen Hürden verlangt der Gesetzgeber, um Missbrauch auszuschließen«, sagt Wetzel. Auf pauschale Aussagen mag er sich nicht einlassen – das unterscheidet ihn wohltuend von manchem Politiker. »Wir haben so viele Einzelfälle wie Kunden«, sagt Wetzel. »Die ganze Palette.« Heißt: die Hängemattenbewohner ebenso wie die wirklich Notleidenden. Welche Gruppe ist größer? Hier lässt sich der Jobcenter-Chef nicht festnageln. Einzelfälle also. Dann ist mein Ansatz nicht so schlecht, mit möglichst vielen Menschen zu sprechen. Mehr davon bald. Und morgen gehe ich wieder einkaufen.
Fehler und Regeln
Wer den Stift spitzt und im Gesetzentwurf der Koalition fleißig die Einzelposten des Regelsatzes addiert, der wundert sich. Beim Posten »Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände« ergibt die Rechnung nach Adam Riese 24,43 Euro. Der Entwurf kommt auf 27,41 Euro. Beim Posten »Verkehr«: 21,94 Euro gegen 22,78 Euro, die im Entwurf stehen. Weitere Fehler bei Freizeit, Wohnen, Sonstiges. Da höre ich auf zu rechnen. Sollte der Entwurf jemals in ein Gesetz übergehen, dann sollte sich vorher jemand mit einem funktionierenden Taschenrechner hinsetzen und noch mal gründlich sein. Solche Unstimmigkeiten führen zu Unsicherheit – und zu Frust nach dem Motto: »Jaja, so machen die da oben Gesetze«.
Andere Gesetze gelten längst – und sind trotzdem nicht bekannt. Den Hinweis verdanke ich einem Leser, der mich auf §35 SGBII hinwies. Dort ist geregelt, dass Erben eines Hartz-IV-Empfängers, wenn dieser im Bezugszeitraum stirbt, die erhaltenen Leistungen an den Staat zurückzahlen muss. Es gibt zwar einen Freibetrag von 1700 Euro, die Ersatzpflicht bezieht sich »auf den Nachlasswert im Zeitpunkt des Erbfalles«, und für pflegende Angehörige gibt es einen deutlich höheren Freibetrag von 15.500 Euro. Auch wird ein langjähriger Hartz-IV-Empfänger kaum große Geldsummen vererben. Aber wenn er beispielsweise in einem eigenen Haus gelebt hat, das nun vererbt wird, dann haben die Erben das Nachsehen. Einfache Rechnung: Hat der Verstorbene vier Jahre lang pro Monat 700 Euro (Regelsatz, Miete und Heizkosten) erhalten, dann müssen die Erben fast 32.000 Euro an den Staat zurückzahlen. Nur gerecht oder Sippenhaft? Schon wieder ein Unterthema, bei dem man sich trefflich die Köpfe einschlagen könnte…
Fehler und Regeln II
Zuerst die neue Regel – oder zumindest der Plan. Die Koalition will Aufstockern, also Leuten, deren kleines Gehalt vom Staat aufgebessert wird, mehr zahlen – 20 Euro im Monat, wenn ihre Einkünfte 800 Euro übersteigen. Mit drei Effekten: Erstens
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