Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
oder weniger auf der Straße gelebt hat. Eines Morgens nach dem Frühstück spreche ich ihn an: »Ich hab den Eindruck, du gehörst hier nicht hin. Du hast doch dein Leben noch vor dir!« Da taut er auf und ist bald nicht mehr zu stoppen: »Der Hauptgrund, dass ich zu Hause weg bin, waren die Drogen. Als meine Eltern das rausbekommen haben und mein Stiefvater handgreiflich wurde, da ging das nicht mehr. Da bin ich abgehauen. Rausgeschmissen hätten sie mich so oder so. Ja, und da hab ich angefangen, draußen zu übernachten. Es kam halt auch durch Freunde. Hab mal Marihuana probiert und dann bis zum Speed. Aber weiter bin ich nie gegangen, bei Spritzen, Heroin war für mich Schluss.
Ich hab den Hauptschulabschluss. Auch eine Lehre hab ich angefangen. Aber abgebrochen. Ich hatte sogar eine eigene Wohnung. Aber die konnte ich dann nicht mehr finanzieren und bin wieder auf die Straße. Dann habe ich es noch mal versucht. Ich habe ein paar Hundert Bewerbungen geschrieben und mich beworben als Koch, Tischler, Maler und alles, aber keinen Job bekommen. Vor zwei Jahren habe ich bei minus 16 Grad auf einer Parkbank übernachtet. Ich bin dann morgens im Krankenhaus aufgewacht, wusste nichts mehr von der Nacht. Mich hat wohl jemand dahin gebracht; ich hab vier Tage im Krankenhaus gelegen. Ein guter Freund hat mich bei sich zu Hause aufgenommen, da bin ich von den Drogen weggekommen. Ich hab gesagt: bis hierhin und nicht weiter. Meine Eltern würden mich wieder aufnehmen, aber nur wenn ich eine Lehrstelle habe.
Das Schlimmste hab ich hier ganz in der Nähe in einer Obdachlosenunterkunft in Goch erlebt. Das Gebäude sieht aus, als wenn es aus den Überresten von Abrisshäusern zusammengeflickt wäre. Die Türen kann man nicht richtig abschließen. Total versifft auch die Leute dort drinnen. Da hatten wir welche, die haben sich geritzt; überall Narben. Drogenabhängige, Alkoholiker. Da standen morgens zwei Mitbewohner, die Dealer waren, an meiner Schlafstelle und wollten mir Heroin verkaufen. Als ich sagte, so was nehm ich nicht, hielten sie mich fest und der eine wollte mit der Nadel an meinen Arm, um mich anzufixen und abhängig zu machen. Ich hab schon von Natur aus tierische Angst vor Nadeln und bin ausgerastet, konnte mich losreißen und abhauen. Jetzt verstehst du, warum ich mich hier einigermaßen sicher fühle, obwohl hier auch welche schon mal mit drei oder vier Promille ausflippen.«
Timo ist hier trotzdem fehl am Platz. Aber das Petrusheim finanziert sich durch die Pro-Kopf-Zahlungen der Behörden; möglichst viele Plätze müssen belegt sein. Also findet nicht statt, was in Timos Fall sofort hätte stattfinden müssen: ihn rausholen aus diesem Milieu meist alter und alkoholkranker Männer, eine betreute Wohngruppe ausfindig machen, in der er leben kann und wieder auf die Beine kommt, ihm also eine Perspektive bieten, die ihm weiterhilft.
Ich lerne schon am ersten Tag einige der Bewohner kennen. Man hat Zeit hier, nichts lenkt ab, auch die, die zur Arbeiterkolonie gehören, hängen rum. Früher hat das Petrusheim mit seinen Leuten die Landwirtschaft zum großen Teil selbst betrieben. Heute machen das Leute von draußen, bezahlte Landarbeiter. Die Insassen brächten zu wenig Leistung, seien nicht motiviert und würden nicht mehr so zum Arbeiten gezwungen wie früher, rechtfertigt sich die Heimleitung. Zwar steht im »Betreuungskonzept« der Einrichtung: »Neben den pflegerischen Maßnahmen finden unsere Bewohner ein vielseitiges Beschäftigungsfeld im Petrusheim. In verschiedenen Arbeitsbereichen, wie z. B. der Hauswirtschaft, Technik, Schlosserei, Schreinerei, dem landwirtschaftlichen Betrieb, der eigenen Metzgerei, Gärtnerei und dem Tierpark, können sie sich individuell integrieren und weiterentwickeln.« Aber der Alltag sieht anders aus. Er besteht nach meinem ersten Eindruck aus rumhängen, sich langweilen, rauchen, trinken, vielleicht noch fernsehen. Im Alltag ist auch wenig von den »Hilfeplänen« zu spüren, die das Heim mit jedem Bewohner aus der Arbeiterkolonie vereinbart und dem Landschaftsverband Rheinland vorlegt. Der zahlt dafür einen festgelegten Tagessatz und so wird das Petrusheim heute zum größten Teil fremdfinanziert.
»Ich wisch hier manchmal stundenlang den Boden«, sagt mir Thomas. »Man muss zeigen, dass man was tut. Dann kriegt man auch die Prämie.« Prämie? Ja, zusätzlich zum monatlichen Taschengeld von 94 Euro bekommt man im Petrusheim Geld fürs Arbeiten. Eine
Weitere Kostenlose Bücher