Draussen
Fußballfans, betrunkenen Sekretärinnen mit ADS und Vieltelefonierern gar nichts anders übrigbleibt, als sich einen Kleinbus für ihre Fahrt ins Glück zu mieten.
»Vor Hannover! Kurz vor Hannover! Hallo?« brüllte gerade einer in sein Mobiltelefon, während hinter mir eine aufgeregte Fränkin ihrer neuen Freundin und Sitznachbarin von ihrem Sohn vorschwärmte. »Der Deofil heißt ja nach seinem Großvader, aber der heißt eigentlich Deodor Philibbus, so wollde mr en dann doch net nenne. Jetz isser auch scho ausgezogn, mit 35. Irchendwann wolln die jungen Loid hald auch auf eichene Füß stehn. Und es war ja so bragdisch, dass die Wohnung direkt under uns grad freiworn is.« Ich versuchte, über den gestrigen Abend nachzudenken. Das war ein interessanter Mensch, dieser Marc. Sehr sympathisch. »Hannover, Helmut, kurz vor Hannover!« Ich war nicht nur kurz vor Hannover, sondern auch kurz vor dem Ausrasten. Wütend und dennoch todmüde blätterte ich in meinem Konzept für den heutigen Abend, konnte mich aber nicht auf das Gelesene konzentrieren. »Und einen grünen Daumn hat der Deo! Neulich habichn bsucht, da hats a weng streng grochen, des kam von so große, buschige Pflanze, Calamaris oder so heißn die.« Kein Wunder musste dieser Theo zu Drogen greifen. Mit klarem Verstand ertrug man so eine Mutter nicht. Ich hasste diese Frau so abgrundtief, wie ich noch nie zuvor einen Menschen gehasst hatte. Außer Helmuts Gesprächspartner vielleicht. Völlig entnervt steckte ich mir die Ohrstöpsel meines MP3-Players in die Ohren. Ich musste ihn allerdings, um etwas zu hören, so laut drehen, dass sich mein Sitznachbar bei mir beschwerte.
Irgendwie erreichte ich trotzdem halbwegs unbeschadet die schöne Rheinstadt. Der Fahrer von »ViewX« hielt das Pappschild zwar verkehrt herum, aber ich konnte es trotzdem entziffern und traf deshalb wenig später im romantischen Tagungshotel »Rheinperle« ein.
Es war eines dieser eleganten Vier-Sterne-Hotels, die eigentlich einen durchweg seriösen Eindruck machen könnten – hätte der Geschäftsführer nicht seiner Frau gestattet, dem Haus einen persönlich-familiären Anstrich zu geben. Und zwar mithilfe von beleuchteten Glasvitrinen, in denen regionales Kunsthandwerk wie kleine Glasigel und mit Seidenmalerei verzierte Krawatten und selbstgemachte Marmeladen angeboten wurden. Hätte jetzt noch ein Porzellan-Pierrot in einem Schaukelstuhl neben dem Lift gesessen, ich hätte den Glauben an das Sterne-System im Hotelgewerbe vollends aufgegeben. Hier hatten sie bestimmt auch noch keine dieser modernen Zimmerkarten, sondern echte Schlüssel, sinnierte ich, während ich auf die freundliche Dame an der Rezeption zusteuerte. Doch da hatte ich dem Hotel Unrecht getan: Es gab tatsächlich eine Karte mit Magnetstreifen. Die hing allerdings an einem derart schweren, fast mannshohen Messinganhänger in Form der Zimmernummer, dass ich versucht war, nach einem Träger zu fragen. Was taten wohl Gäste, die eine dreistellige Zimmernummer hatten?
Die Veranstaltung verlief im Großen und Ganzen friedlich und es gab keine Zwischenfälle. Wie erwartet waren die Gäste hauptsächlich scharf auf das Buffet. Die PR-Chefin von ViewX war eine dieser auf 42 geschminkten, ehrgeizigen 26-Jährigen, die in ihren Pradastilettos – geschätzte 30 cm über Normalnull – Strecken zurücklegen konnte, von denen ein Marathonläufer im bequemen Laufschuh nicht zu träumen wagte.
PR-Chefin mit 26. Wie konnte das sein? Wahrscheinlich hatte sie sich hochgeschlafen, im wahrsten Wortsinn, beruhigte ich mich. Mir war das immer unheimlich, wenn Leute in gehobenen Positionen plötzlich jünger waren als ich. Ich war unlängst auch bei einem neuen Zahnarzt gewesen und konnte ihn nicht recht für voll nehmen, weil er wirkte, als sei er gerade erst abgestillt worden. Wie konnte mein Zahnarzt jünger sein als ich? Ärzte hatten weiß- oder wenigstens grauhaarige, gesetzte Herren zu sein, wie sollten sie einem sonst helfen können? Andererseits war mein Freund Ulf auch Arzt und der war nicht älter als ich. Er arbeitete in der Chirurgie im UKE und machte einen guten Job. Aber die Vorstellung, dass er mich operieren wollte … »Nee, lass ma, Ulf, jetzt hol mal einen RICHTIGEN Arzt!«
Der Comedian, der 27-jährige Thorsten Maunzer, war total nett gewesen und hatte sich gleich vorgestellt: »Thorsten. Äh, Maunzer. Aber von mir aus können wir uns auch duzen.« Obwohl ich das natürlich gut fand, mich mit einem jüngeren
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