Draussen
Ich ertappte mich bei der Vorstellung, Mathis’ Balkon zu begrünen. Tief in meinem Inneren war ich anscheinend doch auch ein bisschen Hausmutti. Deshalb registrierte ich auch, dass es sehr ordentlich aussah bei ihm – und fragte mich natürlich sofort, ob das immer so war oder ob er für seinen eigentlich erwarteten Besuch aufgeräumt, das heißt alles hektisch ins Schlafzimmer gestopft hatte, wie ich es immer zehn Minuten vor dem Besuch meiner Mutter tat.
Mathis konnte offenbar gut kochen. Es gab Thunfischsteak mit Grüner-Pfeffer-Sauce und einen Kartoffel-Endivien-Salat. »Hmm, sehr lecker! Ja, man muss noch ordentlich Thunfisch essen, bald gibt’s keinen mehr!« scherzte ich. Er fühlte sich anscheinend an gegriffen und sagte: »Den hab ich aus dem Bioladen. Der war tiefgefroren.« – »Ach so, dann war er wahrscheinlich eh schon tot!« – »Du Scherzkeks. Nimm dir noch Salat.« Er schenkte mir noch etwas Rotwein ein. Der Tisch war richtig nett gedeckt, es standen sogar Blumen auf dem Tisch und eine Kerze. Hatte ihn also wirklich eine andere Frau versetzt? Und ich war nur der Ersatz? Oder war er am Ende doch schwul? Ich musste nachher im Bad mal überprüfen, was da an Männerkosmetik rumstand. An der Wand hing ein Plakat der Art in Basel aus dem Jahre 2001. Ich deutete darauf: »Warst du da?« – »Ja, mit meiner damaligen Freundin. War ganz interessant. Ich kann mit so ganz modernem abstrakten Zeug aber nicht so viel anfangen, ich habe lieber gegenständliche Kunst.« Er sah mir tief in die Augen. Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten, und merkte, wie ich dabei ganz hibbelig wurde. Es gelang mir und so sahen wir uns gefühlte fünf Minuten nur an, und obwohl ich immer unruhiger wurde, flehte ich insgeheim zu Gott: »Mach, dass er mich küsst. Bitte, bitte. Ich selbst trau mich das nicht, das weißt du, aber er soll. Bitte. Er soll mich küssen.« Irgendwo hatte ich gelesen oder in einem Film gesehen, dass man dem Partner immer im Wechsel auf den Mund und in die Augen gucken sollte, dann würde er das ratzfatz kapieren und man könnte knutschen, bis der Arzt kam. Dazu hätte ich allerdings meinen Blick von seinen Augen wenden müssen und hätte das »Wer-kann-am-längsten?«-Spiel verloren. Also blieben mir nur die Stoßgebete. »Mach schon. Bitte. Der soll mich endlich küssen. Jetzt. Sofort. Ich mach nichts. Ich trau mich nicht. Aber er soll.« Da – ich wurde erhört! Ich spürte Mathis’ weiche Lippen auf meinem Mund, und als hätten wir nie etwas anderes getan, versanken wir in einem endlosen Kuss. Wir knutschten, dass es eine Art hatte. Ich nahm halb in Trance wahr, dass in meiner Tasche wohl mein Handy vibrierte, aber es war mir egal. Anscheinend hatte Mathis es auch wahrgenommen, denn er schien richtiggehend aufzuwachen, zog ruckartig seinen Kopf weg, lachte nervös und sagte: »Ich glaube, ich kann das nicht.« Ich wollte schon sagen: »Dann kannst du dich aber verdammt gut verstellen«, als er fortfuhr: »Mir geht das zu schnell, sorry.« Ich guckte ihn mit großen Augen an. War das nicht unser Text? Der Text von uns Frauen? Und was war denn überhaupt jetzt schon wieder los? Wir waren zwei Menschen, jung und ungebunden, hatten Gefallen aneinander gefunden und konnten beide sehr gut küssen – wobei ich ja nach wie vor glaubte, dass mit mir alle Männer gut küssen konnten, einfach, weil ich die Kussmeisterin schlechthin war. Da konnte man doch mal ordentlich knutschen! Was war denn dabei? Gut – ich hätte Connie natürlich gern auch mal was erzählt, das über Händchenhalten und feuchte Küsse hinausging, aber für den Anfang fand ich das schon mal sehr schön. Er sah mich an und biss sich auf die Lippen: »Ich mag dich wirklich sehr …«, begann er. Aaah! Nein! Sag’s nicht! Alle Alarmsirenen in mir begannen aufzujaulen. Die »Ich-mag-dich-wirklich-sehr-ABER«-Nummer! Als hätte ich sie nicht schon mindestens tausendmal gehört. »… aber ich kann einfach nicht. Gib mir noch etwas Zeit.« Zeit. Natürlich. Natürlich bekommst du deine Zeit. Du bekommst sogar ein Zeit-Abo, von mir aus. Er setzte sich auf und sah auf die Uhr. »Oh, die Doku läuft schon seit ’ner Viertelstunde. Wollen wir mal rübergehen? Ich mach mal an.« Mir war ungefähr genauso danach, jetzt diesen Scheiß-Schwedenfilm zu sehen, wie einem Spanner in einer vollbesetzten Frauensauna danach war, grußlos wieder rauszugehen. Trotzdem setzte ich mich ins Wohnzimmer aufs Sofa, er schaltete den Fernseher an, ging
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