Drei Eichen (German Edition)
ein. Er hatte über vierzig Jahre Polizeidienst hinter sich und würde im nächsten Jahr in Pension gehen, da hatte er schon die ungewöhnlichsten Sachen erlebt. Ein Kind, das niemand vermisste, war für ihn allerdings auch etwas Neues, normalerweise verhielt es sich eher umgekehrt. Vermisste Eltern waren neu in seinem Dienstbereich.
»Ich finde, für das Kind wäre eine geschlossene Einrichtung am geeignetsten. Eine Einrichtung, in der es unter Gleichaltrigen ist und unter fachlicher Betreuung behandelt werden kann.«
Erschrocken schaute Claudia Büchler den Psychologen an, und auch »Pippi« sah mit einem Mal noch unglücklicher aus.
»Was meinen Sie zu der ganzen Angelegenheit, Haderlein?«, fragte Keune und blickte ihn prüfend an.
Der Kriminalkommissar kratzte sich unentschlossen am Kinn und tat sich etwas schwer mit seiner Antwort. Natürlich gab es Richtlinien und gesetzliche Vorgaben, insofern hatte der Polizeipsychologe sicherlich recht. Andererseits war zwischen dem Mädchen und Claudia Büchler innerhalb kürzester Zeit eine innige Beziehung entstanden, die offensichtlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Und wie hieß es nicht so schön? Man sollte doch immer das Kindeswohl berücksichtigen. »Die Sache ist knifflig, aber im Sinne des Kindes würde ich vorschlagen, dass das Mädchen noch ein paar Tage bei Frau Büchler bleibt. Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Ich glaube wie unser medizinischer Kollege, dass dem Kind etwas Unangenehmes widerfahren ist. Aber solange wir nicht herausgefunden haben, was genau, ist es für das Mädchen das Beste, erst einmal bei der Vertrauensperson zu bleiben, für die es sich entschieden hat. Vielleicht wissen wir ja morgen schon mehr.« Fragend schaute er zum Psychologen hinüber, der mit den Augen rollte.
»Das ist gegen die Vorschriften, Haderlein, und das wissen Sie auch«, sagte er verärgert. »Vertrauensperson hin oder her, das Kind braucht eine professionelle Behandlung.«
Egon Keune schaute von einem zum anderen und blieb mit seinem Blick zum Schluss an Claudia Büchler hängen. »Was meinen Sie denn zu dem Vorschlag? Würden Sie das auf sich nehmen, bis, sagen wir einmal, Dienstag das Mädchen bei sich zu behalten? Sie hatten ja bestimmt andere Pläne?«
Doch Clax Büchler hatte keine anderen Pläne. Jedenfalls keine solchen, die sich nicht irgendwie anpassen ließen. Die Situation war für sie unverständlich. Wieso hatte man das Kind vergessen? Was war los mit dieser Welt? »Pippi kann bei mir bleiben, kein Problem. Bis Ende nächster Woche habe ich nichts Wichtiges vor und wollte sowieso Urlaub machen, anschließend müssten wir weitersehen.«
»Gut, dann machen wir das so. Ich werde das mit der Staatsanwaltschaft klären – wegen der Vorschriften.« Keune schaute den Psychologen an, aber der schwieg. »Und, Haderlein? Schauen Sie zwischendurch bei den beiden vorbei. Wenn wir bis Dienstagabend immer noch nichts von den Eltern gehört haben, geben wir eine Meldung in den Medien heraus, vielleicht erkennt ja jemand das Mädchen. Ich bedanke mich einstweilen bei Ihnen, Frau Büchler, Ihr Handeln verdient allerhöchsten Respekt. Herr Haderlein wird Sie jetzt in Ihre Wohnung zurückfahren.«
Es war der Dienstag nach Pfingsten, und bis zur Mittagszeit vermisste immer noch niemand die kleine Pippi. Dafür hatte Franz Haderlein einen Anruf vom Landratsamt in Bamberg erhalten. Die untere Naturschutzbehörde würde sich Sorgen machen, da ihr Chef, ein gewisser Felix Groh, unentschuldigt nicht am Arbeitsplatz erschienen sei und auch auf seinem Handy und zu Hause nicht zu erreichen war. Normalerweise machte sich Haderlein nicht die geringsten Gedanken, wenn ein Beamter nicht pünktlich am Platz seiner sogenannten Arbeit erschien, aber als der Name Groh fiel, war er sofort hellwach.
»Und Sie sind sicher, dass er nicht vielleicht mit seiner Frau im Urlaub ist?«, fragte Haderlein sicherheitshalber noch einmal nach.
»Aber, Herr Kommissar, die Frau von Herrn Groh liegt schon seit über einem Jahr im Koma. Schlaganfall. Meines Wissens lebt er allein mit seiner Tochter.«
Bei dem Begriff Tochter schrillten bei Franz Haderlein sofort alle Alarmglocken. »Tochter? Wie alt ist sie? Wie sieht sie aus?«, fragte er hektisch, obwohl er ahnte, dass er die Antwort schon kannte.
»Franziska ist elf oder zwölf, denke ich. Sie hat lange blonde Haare, trägt normalerweise Zöpfe. Ein wirklich süßes –« Weiter kam der besorgte
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