Drei Eichen (German Edition)
allem, wenn sie ihm einen großen Strauß Blumen schenkte. Sie hatte keine Lust gehabt, blöd danebenzustehen, wenn er sich mit Erwachsenen in dem Steinbruch traf. Da gab es weiß Gott Spannenderes. Leider war der Steinbruch an dieser Seite eingezäunt, sie konnte es also vergessen hinunterzuklettern und würde später den ganzen Weg außen herum wieder zurücklaufen müssen.
Sie war gerade hinter einer breiten Buschreihe mit dem Pflücken von Blumen beschäftigt, als sie aus dem Steinbruch schnelle Schritte und Rufe hörte. Sie kroch in das Gebüsch vor sich und blickte durch die Zweige und den Zaun hindurch nach unten. Ein paar Männer mit Sonnenbrillen und sonderbaren Bogen in der Hand liefen auf die Wand des Steinbruchs zu, auf der sie saß. Zwei andere Männer standen am Eingang des Geländes, während die drei mit den Bogen jetzt – auf sie zielten? Erschrocken zog sie den Kopf zurück, sodass das Gebüsch sie wieder verbarg.
Was war da los? Und wo war Papa? Sie hatte ihn nirgendwo gesehen oder gehört. Sie wollte gerade aus dem Gebüsch kriechen und so schnell wie möglich zum Auto zurücklaufen, als direkt vor ihr eine Hand über dem Rand des Steinbruchs erschien und sich in das Gras krallte. Es folgten ein zweiter Arm und dann der völlig verschwitzte Kopf ihres Vaters. In seinen Augen stand blanke Panik. Erschrocken hielt sie den Atem an, unfähig, sich zu rühren. So hatte sie ihren Vater noch nie gesehen.
»Papa, was ist los?«, rief sie verängstigt und wollte ihre Hände durch den Zaun ihm entgegenstrecken.
Felix Groh stockte einen Moment, als er seine Tochter in dem Gebüsch vor ihm sah. Er wollte sich komplett über den Rand ziehen, als er plötzlich innehielt und ein merkwürdiger Schauer seinen Körper durchlief. Sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze, dann stöhnte er laut auf. Nur noch mühsam konnte er sich festhalten. Er begann bereits abzurutschen.
»Papa!«, wimmerte seine Tochter leise, bevor sie sich noch ein letztes Mal in die Augen sahen.
»Lauf, um Himmels willen, lauf«, stöhnte er in ihre Richtung, dann ließen seine kraftlosen Hände los, und er verschwand aus ihrem Blickfeld.
Sie unterdrückte einen Schrei, presste beide Hände auf ihren Mund und lag geschockt hinter dem Busch, unfähig, der Aufforderung ihres Vaters Folge zu leisten. Sie war wie versteinert. Ihrem Vater musste etwas Schreckliches widerfahren sein. Dann hörte sie, wie sich von links Männer näherten. Es war der gleiche Weg, den sie gekommen war, sie konnte also nicht einfach aufstehen und zurückrennen. Panisch drückte sie sich noch weiter in das Gebüsch in der Hoffnung, dass die Männer sie übersehen würden. Den gepflückten Blumenstrauß hielt sie so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Doch das Einzige, was sie spürte, war unglaubliche Angst. Angst vor diesen Männern und vor der schrecklichen Szene mit Papa, die sie mitangesehen hatte. Aber darüber wollte und konnte sie jetzt nicht nachdenken, die Männer kamen immer näher, bis sie nicht einmal einen Meter entfernt standen. Sie unterhielten sich auf Englisch. Sie hatte erst im letzten Jahr angefangen, die Sprache zu lernen, sodass sie kein Wort verstand. Plötzlich blieb ihr fast das Herz stehen. Einer der Männer ging direkt vor ihr in die Knie, schaute aber nicht in ihre Richtung, sondern begann mit einer Zange den Maschendraht des Zaunes durchzuschneiden, durch den sie zuletzt ihren Vater gesehen hatte.
Als der Mann mit seiner Arbeit fertig war, kroch er auf dem Bauch durch das Loch und schaute über den Rand des Steinbruchs nach unten. Anscheinend zufrieden mit dem, was er gesehen hatte, schob er sich wieder rückwärts zurück und richtete sich auf seinen Knien auf.
Sie starb fast vor Angst, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als der Mann in dem schwarzen, eng anliegenden Shirt jetzt doch in ihre Richtung schaute. Aber er schien sie nicht zu bemerken, obwohl sein Gesicht nur etwa einen Meter entfernt war. Dafür konnte sie sehen, dass auf der einen Seite seines Shirts etwas aufgenäht war. Unter einem roten Baum stand in Englisch »Three Oaks«. Das erste Wort kannte sie, im Deutschen bedeutete es »drei«, doch mit »Oaks« konnte sie nichts anfangen. Sie würde sich das Wort merken und ihr Leben lang nicht mehr vergessen. Genauso wenig wie die Gesichter der Männer.
Schnell war der Moment vorbei, und der Mann hatte sich erhoben. Er und seine Begleiter diskutierten noch einmal kurz, diesmal allerdings auf Deutsch, und
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