Drei Frauen und los: Roman (German Edition)
dass sie immer wieder verschwunden sind, einfach wegfuhren, ohne auch nur einen Zettel zu hinterlassen, so als würde sie gar nicht existieren. Und dass sie, seit sie aus Fosberg weggezogen sind, nichts mehr von ihnen hört. Was sie überhaupt nicht versteht und was sie am meisten beschäftigt, ist die Frage, wie ihre Eltern sie so leicht vergessen konnten – hat sie nicht doch etwas falsch gemacht? Sie würde Tim gern fragen: »Kann man mich einfach so vergessen?« Sie möchte ihn das fragen, weil sie weiß, dass er sagen wird: »Keinesfalls« oder »Verdammte Scheiße, nein!« oder »Wie kommst du denn auf die verrückte Idee? Ich könnte dich niemals vergessen.« Aber sie sagt nur: »Deine Mom hat sich so gefreut, dich zu sehen.«
»Sie ist meine Mutter«, sagt Tim, schwingt die langen Beine aus dem Bett und setzt sich auf. Er streichelt Tracee übers Haar. Er könnte Tracees Gesicht immerzu ansehen, sie ist so schön, und man sieht darin alles, was sie fühlt. »Kennst du die Theorie von dem Einen?«
»Nein.«
»Komm, setz dich hin.«
Sie rutschen nach oben zum Kopfteil, nackt, die Laken bis ans Kinn gezogen, und schauen auf Tims Schreibtisch mit seiner Robotersammlung. Einer davon, den er ihr zuvor gezeigt hat, kann sogar staubsaugen, er holt Krümel von einer Tischplatte. Die Theorie des Einen, erklärt er, besagt, dass man nur einen Menschen braucht, um seinem Leben eine neue Bedeutung zu geben. »Man kann das schlimmste Leben der Welt haben«, sagt Tim, »aber wenn auch nur einer an einen glaubt, ist alles in Ordnung. Bei mir war das meine Mutter. Sie ist meine Verteidigerin, steht immer an meiner Seite. Sie hatte die Idee, eine Fahrschule aufzumachen.«
Tracee ringt mit dieser Vorstellung. Hatte ich diesen Einen? Sie denkt nach. Lana hatte ihn. Es war ihr Vater.
»Bist du dir sicher mit dieser Theorie?«, erkundigt sich Tracee. »Denn Lana …«
»Im Discovery Channel haben sie gesagt, die Theorie trifft zu. Sie hat den Alkohol aufgegeben, oder?«
»Ja, aber ihr Einer spricht nicht mehr mit ihr.«
»Wie kommt das?«
»Ich weiß nicht genau.«
»Normalerweise funktioniert es«, sagt Tim.
»Wenn jemand für dich da ist, ist das dann dasselbe wie ein Verteidiger? Einen Verteidiger hatte ich nicht, aber ich hatte Lana.«
Tracee will nicht diejenige sein, die niemanden hatte. Sonst kommt sie sich vor, als sei sie dem Untergang geweiht.
»Ich wäre gern der Eine für dich«, sagt Tim.
»Ist das nicht zu spät?«
»Verdammt noch mal, nein! Ich bin es.«
41
Der erste Anruf, den Lana auf ihrem wieder aufgeladenen Handy bekommt, ist von Bill. Er weckt sie um halb zwölf Uhr mittags und muss ihr zweimal sagen, wer er ist, weil sie von der Schlaftablette noch ganz desorientiert ist. Trotzdem war es gut, dass sie eine genommen hat, sonst hätte sie die ganze Nacht über Tracee und die Halskette nachgedacht.
»Ihr Auto ist fertig und wartet auf Sie«, sagt Bill.
Er holt sie ab und bringt sie zur Tankstelle. Obwohl sie ihm noch 50 Dollar schuldet, erklärt er, die solle sie mal vergessen, und sieht ihr voll Stolz dabei zu, wie sie um das Auto herumgeht, den glänzenden neuen Kühlergrill streichelt, die neue Tür auf der Fahrerseite auf- und zumacht und ruft, wie großartig sie funktioniert. »Hervorragende Arbeit. Er ist neuer als damals, als ich ihn gekauft habe.«
»Ich habe sogar die richtige Farbe gefunden«, sagt Bill. »Mit viel Glück.«
Er überreicht ihr die Schlüssel. Sie setzt sich hinters Lenkrad und bleibt einen Moment lang zufrieden sitzen, spürt das vertraute Vinyl heiß an den nackten Beinen. Dann dreht sie den Schlüssel, gibt Gas und lauscht auf das Brummen des Motors. Es ist, als wäre ein Freund zurückgekommen.
»Das verdanke ich Rita«, sagt sie zu Bill. »Wenn Rita nicht wäre … Ich stehe in ihrer Schuld.«
»Bestimmt können Sie das eines Tages ausgleichen.«
»Ich wüsste nicht, wie.«
Sie winkt ihm zu und fährt davon, sie will zum Lion . Ihr Hirn beginnt eifrig zu arbeiten, wie immer, wenn sie fährt, es springt von einem Gedanken zu anderen, und sie erinnert sich daran, wie sie gestern Nacht ausgeflippt, völlig durchgedreht ist. Sie braucht Marcel. Sie braucht einen Besuch bei ihm. Sie muss ihn sehen, ehe sie Tracee gegenübertritt. Vor dem Rückfall letzte Nacht hatte Lana sich angewöhnt, mit Marcel zu sprechen, auch wenn er gar nicht da war – sie nannte es nicht beten. Jetzt versucht sie es: Marcel, hilf mir, mein Hirn abzuschalten. Lass mich ruhiger werden.
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