Drei Irre Unterm Flachdach
u fen Tränen, die Nase tropft. Unglück macht gütig – ich denke an die viele Buttereremetorte. Dann kramt sie einen von Großvater bemalten Tischläufer hervor und erzählt zwei Stunden lang b e geistert von Gustav und seinen Talenten. Und dann, ganz am Schluß, kurz bevor ich gehe, vertraut sie mir noch etwas an: »Weißt du, ich bin da vor paar Jahren mal gew e sen im KZ, ich hab mir das alles angesehen. Und wie ich die Strohsäcke sehe, da de n ke ich, das ist ja wie früher bei uns zu Hause. Weißt du, wir haben damals auch auf Strohsäcken geschlafen! Also so schlimm, so schlimm, wie immer gesagt wird, kann es da nun wirklich nicht gewesen sein.«
Wendezeit
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 trottete ich neben Horst durch die stillen, dunklen Straßen von Niederschö n hausen, als ein tanzendes Paar um die Ecke kam, Bierflaschen schwe n kend. »Die Mauer ist auf! Die Mauer ist auf! Wir können alle in den Westen!« Unsere Blicke trafen sich: »Na dann viel Spaß!« Frisch verliebt waren die und ziemlich besoffen. Wir gingen schlafen.
Am nächsten Morgen fuhr ich ins Büro im Zentrum für Kunstausstellungen. Es roch nach Sekt und Hackepeter, früh um neun. Widerlich, wer hatte denn nun schon wieder Geburtstag! Gisi, Mitte vierzig, schwarzer Bubikopf, schwarz g e randete Brille, ge r tenschlank, die Klamotten eine Mischung aus Westen und DDR-Exquisit, hatte Tränen in den Augen: »Mit derselben Wil l kür, mit der sie die Mauer aufgebaut haben, haben sie sie auch wieder eingerissen! Wollten wir nicht was Besseres als den Kapitalismus? Wofür haben wir denn all die Jahre g e kämpft?« Ich verstand nicht: Wer hatte hier g e kämpft und wofür? Daß die DDR bleiben würde, wie sie war – »Da müßte ja sonst was passieren, daß sich hier noch mal was ändert« –, wußten doch alle!
Wir bekamen frei und durften rüber nach Westberlin. Ich war einundzwanzig, im besten Alter für Revolutionen, und wußte nicht, was ich am Bahnhof Zoo sollte. Die Mauer war weg, schön irgendwie, aber was würde jetzt kommen? Der Ge l senkirchen-Trip vor zwei Jahren hatte mir gereicht. Großmutter hatte recht gehabt, die Wurst hatte wirklich nicht geschmeckt, überall Dreck und Penner, im Buchladen eine ganze Abteilung Fra u enliteratur, öde! Was um Gottes willen sollte ich da? Meine Kollegen, auch Gisi, die immer noch weinte wegen der »Willkür«, waren wie in Trance. Wir drängelten uns durch die von übergeschnappten DDR- Bürgern überfüllten Straßen, und ich genierte mich. Lauter Leute aus dem Land, aus dem auch ich kam; mit Plastetüten von Aldi und Stof f beuteln, vollgestopft mit Jacobs Krönung und Bananen. Im Ban a nenhagelsturm aufgefangen und runtergegrapscht von Lastw a genladerampen – sogenannte Begrüßungsgeschenke. Ich versuchte, mir Großvater vorz u stellen, hier, unter den Ta u senden durchgedrehten Menschen aus dem Osten. Doch es gelang mir nicht. Bei all seiner Liebe zu verchromten Wasserhähnen, Nordseekrabben und Schweizer Kräuterbonbons – das hätte er nicht ertragen. Eher hätte er sich e r schossen.
Ich rief bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte an, wo ein B e kannter von mir arbeitete. Die Frau in der Zentrale stellte mich sofort zum richt i gen Dezernat durch – sie war vorbereitet auf den Run aus dem Osten.
Wir trafen uns im Europacenter und tranken Guinness. In dem großen Irish Pub im Keller war es warm, schummrig, leer. Ein Zufluchtsort, Versteck vor den Massen von Be u teltieren draußen auf den Straßen. Wir saßen an der Bar, ich schlürfte mich durch die dicke hellbraune Bierschaumschicht bis zur dunke l braunen he r ben Flüssigkeit und fühlte mich sauwohl. Wir saßen zwei Stunden am Thesen, sahen den Barmännern beim Zapfen zu und red e ten kaum. Ein süßer Schockzustand. Dann brachte mich Richard zum Grenzübergang Invalide n straße. Jetzt, da ich gegen den Strom anlief, als ei n zige zurück in den Osten, mußte ich zum ersten Mal heulen. Ich fragte mich schon wieder, ob ich noch normal war.
Da war wirklich nur der eine Gedanke: Schnell, ganz schnell zurück in mein verträumtes Niede r schönhausen, wo die Straßen nachts still und dunkel sind.
Meine Wendemusik war eine Platte von »Vaya Con Dios«. Ich hörte sie wochen-, monate-, jahrelang: »Lord help me ple a se!« dröhnte es Tag und Nacht aus den Boxen in meiner Dre i ßig-Quadratmeter-Parterrewohnung – ich hatte Angst vor dem Westen. Die miefige DDR war über Nacht eine Art
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