Drei Wunder (German Edition)
einem Kind oder einem Haustier, während ein arrogantes Grinsen sich auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Olivia«, stieß sie hervor, ihr Gehirn schien blockiert, ihr Gesicht wurde heiß vor Verlegenheit.
»Nur Olivia«, wiederholte Sommersprosse. »Keinen Nachnamen. Wie Madonna?«
Olivias Ohren brannten. Sie konnte nicht glauben, dass sie bei der ersten Gelegenheit, bei der sie sich in der Klasse behaupten wollte – sogar in neuen Klamotten –, von einem quasi minderjährigen Möchtegernlehrer verspottet wurde.
»Okay, Madonna «, fuhr er fort. »Willkommen in meinem Englischkurs. Ich bin MrWhitley. Ich weiß, dass eine Menge Lehrer – in ihren geblümten Hemden oder Lederjacken – sich hier mit Vornamen ansprechen lassen. Das tun sie, weil sie möchten, dass ihr sie als Freunde betrachtet.« MrWhitley machte vor einer Tischreihe dramatisch eine Pause und klopfte langsam mit den Knöcheln gegen das polierte Holz. »Ich«, fuhr er fort und zog das Wort so lang, als hätte es viele Silben, »gehöre nicht zu diesen Lehrern.«
Ein leises, respektloses Kichern kam vom Platz direkt vor Olivia. Ein Mädchen warf ihr dunkles Haar über eine Schulter, und Olivia erkannte sofort das perfekte Profil, das Kinn mit dem Grübchen, die mandelförmigen Augen. Calla Karalekas.
MrWhitley warf einen ernsten Blick in Callas Richtung, und Olivia hielt kurz die Luft an, voller Sorge, dass es jetzt richtig Ärger geben würde. Doch Calla hob lediglich ihre dichten langen Wimpern und erwiderte den Blick des Lehrers ohne wegzusehen. Es schien ein fast kokettes Grinsen zu sein.
MrWhitley drehte sich auf dem Absatz um und fing wieder an, auf und ab zu gehen.
»Du kommst etwas spät im Schuljahr zu uns«, sagte MrWhitley zu den Spitzen seiner schokofarbenen Halbschuhe, »und deshalb könntest du leichte Schwierigkeiten haben, das Pensum zu bewältigen. Wir sind mitten im Stoff über die Bloomsbury-Gruppe, und heute sprechen wir über einen von Virginia Woolfs bedeutendsten Romanen, Zum Leuchtturm . Ich nehme an, du hast die Bücherliste bekommen, die wir während der Ferien verschickt haben?«
Olivia hatte eine vage Erinnerung daran, dass kurz vor ihrem Umzug irgendetwas mit der Post gekommen war. Doch diese letzten Tage lagen unter einem Schleier von Chaos und Verweigerung, so dass sie nicht sicher war, was mit dem Umschlag geschehen war.
»Ähm, ich … denke schon«, stotterte sie leise. »Ich meine, nein, ich glaube …«
MrWhitley hatte der Klasse bereits wieder den Rücken zugewandt. »Das war keine Scherzfrage, Madonna«, bellte er und kritzelte eine Reihe von Daten an die Tafel. »Vielleicht könntest du dir übers Wochenende eine Ausgabe ausleihen. Du wirst feststellen, dass du eine Menge nachzuholen hast.«
Aus der Ecke des Klassenzimmers wedelte Graham mit seinem Buch in ihre Richtung. Olivia hielt den Blick auf MrWhitleys Hinterkopf gerichtet, und ihr nervös klopfender Puls schien immer schneller zu werden.
Plötzlich kniete Violet neben ihr, ihre Augen funkelten und sprühten. »O nein!«, rief sie aus. »So kannst du nicht mit dir reden lassen. Dieser Lehrer wird dich fertigmachen, wenn du ihm nicht die Stirn bietest.«
Olivia blickte auf ihre Schwester hinunter, die nachdrücklich nickte und nach vorne deutete.
»Du hast dieses Buch schon hundertmal gelesen!«, machte Violet ihr Mut. »Erzähl mir nicht, du hast dein geliebtes Hausaufgabenzimmer vergessen?«
Olivias Wangen röteten sich, als sie an ihre intensive feministische Phase dachte, die sie an ihrer letzten Schule durchlebt hatte. Nachdem sie einen von Woolfs berühmtesten Essays Ein eigenes Zimmer gelesen hatte, hatte Olivia beschlossen, dass sie ebenfalls ein eigenes Zimmer bräuchte, um ihre Hausaufgaben ordentlich machen zu können. Das führte dazu, dass sie einen Teil des Hauswirtschaftsraumes für sich abtrennte. Violet hatte recht. Sie kannte die meisten von Woolfs Romanen praktisch auswendig, selbst die wirklich komplizierten, für deren Verständnis sie Monate gebraucht hatte. Zum Leuchtturm war nicht gerade ihr Lieblingsbuch, doch sie wusste auf jeden Fall genug, um eine Meinung äußern zu können.
»Und nun«, fuhr Whitley fort, »wer kann mir sagen, was genau Woolf sagen wollte, als …«
»Ich habe es schon gelesen.«
Olivia beugte sich auf ihrem Platz nach vorne, die Ellbogen lagen leicht auf dem Pult vor ihr. Die Worte kamen von irgendwo so tief in ihr, dass sie ganz merkwürdig schmeckten.
MrWhitley erstarrte, den Arm zum
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